Tradition neu erfunden:Der Stammtisch ist tot, es lebe der Stammtisch

Er gilt als Inkarnation spießbürgerlichen Biedersinns, als Hort der Ewiggestrigen - doch aus allen Richtungen schallt zurzeit die frohe Kunde, über die Stammtische der Nation wehe der Wind der Veränderung. Ein spannender Wandel, der das Überleben der bierseligen Institution sichern kann.

Georg Etscheit

Jörg Noppenberger verkauft, was man so braucht, um das traute Heim vor unliebsamen Besuchern zu schützen: Schlösser, Tresore, Alarmanlagen. Auch schwere, schmiedeeiserne Stammtisch-Aschenbecher führt seine Schlüsselzentrale Aischtal in Höchstadt. Man könnte die sperrigen Objekte durchaus als effektive Waffen zur Selbstverteidigung benutzen. Bei Noppenberger laufen sie unter "Vereinsbedarf".

Stammtisch

Nicht zu übersehen: Ein Stammtisch-Schild hängt im Biergarten des Hofbräu-Kellers in München.

(Foto: dpa)

Landauf, landab zieren solche Aschenbecher die Stammtische. 150 bis 200 Stück pro Jahr wird der fränkische Geschäftsmann los, mit und ohne Glocke zum Herbeibimmeln der Bedienung. "Für mich ist das ein schönes Zusatzgeschäft", sagt Noppenberger. Aufgeklärte Zeitgenossen verbinden mit den klobigen Artefakten geistige Enge, Ausgrenzung und politische Argumentationsmuster, die sich in angeblichen "Stammtischparolen" wie "Rübe runter" oder "Wegsperren für immer!" erschöpfen.

Der Stammtisch als Inkarnation spießbürgerlichen Biedersinns? Als Hort der Ewiggestrigen und Unbelehrbaren? "Einspruch", ruft ausgerechnet der grüne bayerische Landtagsabgeordnete Sepp Dürr. Er glaubt, dass der Wind der Veränderung längst auch um die deutschen Stammtische weht. Sie würden weiblicher, multikultureller, urbaner. Und auch der Mief aus den Köpfen beginne sich zu verziehen, das angeblich ja so desaströse Stammtischniveau sei viel höher als gemeinhin angenommen.

"Die Leute haben heute einen enormen Erfahrungshorizont", sagt der Biobauer und promovierte Literaturwissenschaftler aus Germering bei München, der zum Verdruss der CSU dabei ist, das Zukunftsthema Heimat für die Grünen zu besetzen. "Alle haben doch heute was von der Welt gesehen." Das wirke sich aus. "Das Dumpfe ist weg", meint Dürr. Hat der Stammtisch als Arena populistischer Parolen ausgedient? Oder war er schon immer besser als sein Ruf? Hat eine solche Institution so etwas wie eine Ehrenrettung überhaupt nötig? Vielleicht war er ja noch nie das, für was wir ihn immer gehalten haben.

Jede elfte Maß ist frei

Wer sich mit dem Phänomen Stammtisch eingehender befassen will, kommt am Münchner Hofbräuhaus nicht vorbei. Das weltberühmte Wirtshaus in der Münchner Altstadt pflegt seine Stammgäste. "Sie sind die Seele unseres Hauses", sagt Hofbräuhaus-Wirt Wolfgang Sperger, der sich zusammen mit seinem Bruder Michael seit ein paar Jahren mit einigem Erfolg um eine Abkehr vom Image der Touristenfalle bemüht. Sperger ist ein fröhlicher, offener, bodenständiger Typ und im Dienst natürlich immer in einen Trachtenjanker gewandet.

Die Pflege der Stammtische ist für ihn auch ein Kundenbindungsprogramm. "Wer bei uns einen Stammtisch gründen will, muss einige Zeit als Stammgast bekannt sein." Irgendwann wird der Runde dann ein offizieller Status zuerkannt. Mit festem Tisch, festem Kellner, Motto und eigenem Bierdeckel. Sperger hat auch die Tradition der metallenen Bierzeichen wieder aufleben lassen, die man sich ans Charivari (eine Schmuckkette am Trachtenanzug) hängen kann. Jede elfte Maß ist frei.

Tracht ist erwünscht, politische Diskussionen weniger

Die "Wuide Rundn" hat sogar ein dauerhaft installiertes Emblem, unten in der Schwemme. Schließlich handelt es sich um den ältesten Stammtisch des Hofbräuhauses, gegründet 1948, eine Vorzeigeinstitution. Gerne erzählt man sich die Geschichte, wie man einen Stern-Reporter abgefüllt hat, der über Stammtische schreiben wollte. Der Artikel sei trotzdem (oder gerade deswegen?) sehr schön geworden. Die Runde versammelt sich jeden Freitagnachmittag. Tracht ist erwünscht, Diskussionen über Politik weniger.

Und Fußball, ein anderes potenzielles Streitthema, darf nur deshalb auf die Tagesordnung, weil Bayern und Sechziger zur Zeit nicht in der gleichen Liga spielen. "Wir wollen doch nur gemütlich beisammen hocken", sagt Kurt, ein früherer Feuerwehrmann mit mächtigem Zwirbelbart. "Wenn wir politisieren, will jeder seine Meinung durchdrücken. Das schafft Unfrieden."

Neues vom "Bundesalgenstammtisch"

Der Tisch ist bunt gemischt. Walter hat als Hausmeister gearbeitet, Hugo bei der Eisenbahn, Paul im bayerischen Innenministerium. Als einzige Frau darf Hannelore, Pauls bessere Hälfte, mit am Tisch sitzen. Später stößt noch Diego hinzu, ein Biersommelier aus Norditalien, mit 44 Jahren einer der jüngsten der Wuidn Rundn. Es wird gelacht und gefrotzelt. Manchmal lästert man über asiatische Touristen, die ihre Knödel zur gigantischen Schweinshaxe mit der Gabel aufspießen und immer wieder davon abbeißen wie von einem Liebesapfel.

Besonders gefährlich wirkt die Runde nicht, wenn man die ostentativ zur Schau getragene Politikabstinenz nicht selbst für eine Gefahr hält. Der Stammtisch als "Gemütlichkeitsvollzugsanstalt", wie es der Kabarettist Gerhard Polt einmal formuliert hat.

Keine Statistik offenbart, wie viele Stammtische es in deutschen Wirtshäusern gibt. Nur so viel ist bekannt: 28 Prozent der über 18-jährigen Deutschen treffen sich regelmäßig zu einer Runde, die als Stammtisch bezeichnet werden kann, so das Ergebnis einer von der Tageszeitung Die Welt allerdings schon 2005 in Auftrag gegebenen Umfrage. Fast exakt so viele übrigens, wie eine ähnliche Erhebung zehn Jahre zuvor ergab. 50 Jahre früher sollen es nur 17 Prozent gewesen sein.

Rauchverbot, Wirtshaussterben und Facebook zum Trotz: Der Stammtisch lebt also. Allenfalls der klassische "Honoratiorenstammtisch" dürfte ein Auslaufmodell sein. Einst traf sich alles, was im Dorf oder Städtchen Rang und Namen hatte, meist nach dem sonntäglichen Kirchgang: Bürgermeister, Pfarrer, Dorflehrer, Apotheker, Arzt, Großbauer. Man trank, plauderte, politisierte, machte Geschäfte. Nach diversen Kommunalreformen hat aber längst nicht mehr jede Gemeinde einen Bürgermeister. Auch Pfarrer, Bauern und Landärzte sind aussterbende Arten. Und die Urbanisierung einst ländlicher Regionen hält an.

VW-Golf-Freaks, Junggesellen und schwule Eisenbahnfreunde

An die Stelle des Honoratiorenstammtischs treten Special-Interest-Stammtische, bei denen sich VW-Golf-Freaks ebenso treffen wie die Junggesellen oder die schwulen Eisenbahnfreunde. Eine andere, zeitgemäße, Variante ist der Fun-Stammtisch, dessen einziger Zweck darin besteht, eine Gaudi zu haben. Die Spaß-Stammtische tragen kryptische Kürzel wie DDSNSD.

Es gibt auch Stammtische, die gar keine sind. Den "Bundesalgenstammtisch" etwa. Dabei handelt es sich um einen vom Bundesforschungsministerium ins Leben gerufenen "offenen Gedankenaustausch vor dem Hintergrund hochkarätiger wissenschaftlicher Beiträge" an wechselnden Orten. Thema: der "Einsatz von Mikroalgen als vielversprechende Wertstoffproduzenten".

Lufthoheit über den Stammtischen

110 Stammtische gibt es im Hofbräuhaus, was deutscher Rekord sein dürfte. Und immer wieder kommen neue hinzu. Wie die "Wuiderer", eine bunt zusammen gewürfelte Truppe von Münchner Künstlern, Fotografen und Journalisten zwischen 30 und 60 Jahren. Der Name spiegelt die rebellische Tradition der bayerischen Wilderer. "Wir wollten nichts, was nach Setz-dich-nicht-dazu klingt", sagt Stammtischgründer Heinz Daxl, Maler und Grafiker, der vor ein paar Jahren noch "keinen Fuß ins Hofbräuhaus" gesetzt hätte.

Nicht nur die CSU behauptet gerne, dass Stammtische ein wichtiger Ort politischer Kommunikation seien. Ob es wirklich so entscheidend ist, die "Lufthoheit über den Stammtischen" zu erringen? Nach den Erkenntnissen des Soziologen Georg Wedemeyer sind originär politische Gesprächsinhalte an Stammtischen und am Tresen eher selten. Wedemeyer verweist auf Untersuchungen, wonach der Anteil "originärer politischer Themen" nur zwischen fünf und zehn Prozent liege. "Allzu deutliches Politisieren unter normalen Kneipengästen wird oft von den Diskutanten selbst lächerlich gemacht."

Brutstätten des Widerstandes

Vor allem aber haben Stammtische entgegen der landläufigen Vorstellung eine eher linke Tradition. Sie rührt aus der Zeit der bürgerlichen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts. "In beinahe jeder deutschen Stadt hatte die bürgerliche Revolution ihre Stammtische", schreibt Wedemeyer, weshalb die Revolutionäre auch den Spitznamen "Wirtshausrepublikaner" trugen. Die Parteien und Fraktionen des Frankfurter Parlaments nannten sich nach ihren Treffpunktlokalen.

Auch Karl Marx und Friedrich Engels sollen Mitglieder des Stammtischs "Die Freien" gewesen sein. Den Herrschenden, vom Fürsten Metternich bis zu den Nazis, waren Kneipen und Biergärten als potenzielle Brutstätten des Widerstandes suspekt. Wie sich der Ruf der Stammtische von aufmüpfigen, schwer kontrollierbaren Zellen zu Orten staatstragender Verstocktheit wandelte, erklärt Wedemeyer leider nicht.

Von Studierenden würde man annehmen, dass an ihren Stammtischen eifrig diskutiert und agitiert wird, in diesem Fall natürlich mit linker Schlagseite. Vielleicht über den Erfolg der Piraten in Berlin und im Saarland? Oder zumindest über die Dauerbrenner Studiengebühren und Bologna-Reform. Fehlanzeige! Jan und Christoph reden sich zwar die Köpfe heiß, doch nicht über Politik, sondern über die Frage, ob Madrigale (mehrstimmige Vokalstücke meist weltlichen Inhalts aus der Zeit der Renaissance) primär für ein Publikum oder für die Ausführenden selbst komponiert worden seien. Eine Diskussion, die in der "Wuidn Rundn" bestenfalls Kopfschütteln hervorrufen würde.

Aber das ist schließlich der wöchentliche Stammtisch der Studierenden des Musikwissenschaftlichen Instituts der Ludwig-Maximilians-Universität in der Traditionskneipe "Alter Simpl". Solche hoch fachlichen Diskussionen sind hier nicht selten. Ansonsten drehen sich die Gespräche der "Musis" um den Studienalltag oder Erfahrungen bei Praktika im Musikbetrieb. Oder man lästert ab. Über Kommilitonen, die gerade nicht mit am Tisch sitzen, und die Profs. "Der Stammtisch ist eben der Stammtisch", sagt Friedrich. "Eine Entität für sich."

Kellner Daniel versorgt die Runde mit Getränkenachschub. In Ruhpolding im Chiemgau, seiner Heimat, hat er den Jugend-Gaudi-Stammtisch mit dem geheimnisvollen Kürzel DDSNSD mit gegründet. "Die Jugend auf dem Land sei immer noch ziemlich wirtshausaffin", sagt er. DDSNSD heißt übrigens ausgeschrieben "De, de sie nix scheißn dean".

Fremde (wie Frauen) wurden früher ausgeschlossen

Sepp Dürr, der heimataffine Grünen-Politiker aus dem bayerischen Landtag, kann sich als Doktor der Literaturwissenschaftler sehr gepflegt ausdrücken, wobei sein oberbayerischer Dialekt in einem charmanten Kontrast zu seinen elaborierten Thesen steht. Dürr glaubt, dass der Stammtisch einen markanten Bedeutungswandel erfahren habe. Die alten Rituale und Orte seien spätestens in den neunziger Jahren zerfallen. Doch es habe sich eine Gegenbewegung formiert.

Der Stammtisch ist tot, es lebe der Stammtisch, könnte man Dürrs Analyse auf den Punkt bringen. Früher sei es darum gegangen, die Teilnehmer auf eine vorherrschende Meinung einzunorden. Abweichende Meinungen wurden nicht geduldet, Nicht-Erscheinen sanktioniert. Und Fremde (wie Frauen) mussten sich an einem anderen Tisch niederlassen. "Das ist alles offener und freiwilliger geworden, auch auf dem Land", sagt Dürr. "Heute sitzen die Abweichler mit am Tisch."

Der Stammtisch gibt Halt im Strom der Zeit

Oder sie gründen gleich ihren eigenen Stammtisch. Jeden letzten Freitag im Monat treffen sich im Münchner Wirtshaus "Beim Franz" die schwulen Eisenbahnfans. Das Lokal hat nichts von einer trendigen Szenekneipe, es könnte sich auch auf dem platten Land befinden. Die Speisekarte bietet Bodenständiges - Tiroler Gröstl sei leider schon aus, sagt der Wirt. An der Wand hängen Fotos von Rainer Werner Fassbinder oder König Ludwig II., zwei Schwulenikonen. Außerdem ein Foto der Schwuhplattler, der einzigen schwulen Plattlergruppe in Bayern.

"Wir reden eigentlich über alles, nur nicht über die Eisenbahn", sagt Peter, Koordinator des "Freundeskreises Eisenbahn Süddeutschland". Dann fachsimpeln die Männer aber doch über die neueste ICE-Generation, den Umbau des Chemnitzer Hauptbahnhofs oder darüber, wie man im Internet an die billigsten Tickets kommt. Der Stammtisch erweist sich als bemerkenswert flexibel und anpassungsfähig. Wie die Institution der Ehe, die es längst auch in allen Schattierungen gibt. Eigentlich geht es ja nur um eins: miteinander reden, lachen, essen, trinken. Und im Strom der Zeit ein wenig Halt finden, jeden letzten Freitag im Monat, "Beim Franz".

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