Tourette-Syndrom:"Tourette hat eben nichts mit 'Arschloch' zu tun"

Jean-Marc Lorber hat das Tourette-Syndrom. Was er sich auf der Straße deshalb schon anhören musste und warum er ohne obszöne Worte auskommt.

Protokoll von Lars Langenau, Videos von Sonja Salzburger und Johannes Schäfer

"Tourette - das sind doch die, die immer 'Fotze' oder 'Arschloch' schreien, heißt es. Nein, eben nicht. Ich sage das zwar auch manchmal, dann aber beabsichtigt. Schätzungen zufolge lebt etwa ein Prozent aller Deutschen mit dem Tourette-Syndrom, also rund 800 000 Menschen. Von denen haben nur etwa zehn Prozent die Unterform Koprolalie, also den Zwang, Fäkalsprache zu benutzen.

Bei mir sind die Auswirkungen anders - ich produziere Laute und habe motorische Tics:

Jedes Mal, wenn sich so ein Tic entlädt, baue ich Spannung ab. Das ist wie beim Niesen, ich empfinde das als angenehm.

Mit neun Jahren fiel mir zum ersten Mal auf, dass ich nicht so bin wie die anderen. Die Tics hatten nach einem Zeckenbiss und einer daraus resultierenden Hirnhautentzündung begonnen. Bis heute weiß ich nicht, ob die Meningitis das Tourette-Syndrom bei mir ausgelöst oder nur gepusht hat. Zuerst war es nur ein unkontrolliertes Augenblinzeln, doch es blieb nicht dabei:

Die offizielle Diagnose bekam ich mit 15. Meine Eltern sind mit mir damals von einem Arzt zum nächsten gegangen. Die verschrieben mir unter anderem Haldol, ein hochwirksames Neuroleptikum, das wie eine Abschussdroge wirkt. Nach der Einnahme hatte ich zwar kein Tourette, aber auch kein Leben mehr. Ich fühlte mich wie ein Roboter. Auch auf andere Medikamente reagierte ich träge und müde. Seit zwölf Jahren nehme ich nichts mehr. Da zapple ich lieber und bin dafür ich selbst, statt einfach nur ruhiggestellt zu sein.

Tourette ist als Einschränkung klassifiziert, manche sagen auch Krankheit dazu. Ich selbst sehe Tourette nicht als böses Handicap, sondern betrachte das eher als Ausdrucksform oder Lebensart. Im Grunde hängt es vor allem von der Umwelt ab, ob man sich wirklich eingeschränkt fühlt.

In meiner Schulklasse wurde ich früher von meinen Mitschüler oft gefragt, was mit mir los sei. Für einige meiner Schulkameraden war das okay, sie sagten sich 'Der spinnt halt ein bisschen' und dann war das abgehakt. Doch ein paar Idioten machten sich ständig über mich lustig. Eine Mitschülerin sagte etwas wirklich Krasses:

Mit 17 Jahren hatte ich mich aufgrund solcher Erfahrungen total zurückgezogen, las sowohl medizinische Fachbücher als auch esoterische Literatur, um mich aus dieser 'bösen Symptomatik' herauszubringen. Im Sturm meiner Hormone wusste ich damals ohnehin nicht, was mit mir los war. Da war Tourette das Sahnehäubchen oben drauf.

Ich war verplant und ziellos, wollte mich finden und erden, versank jedoch mit meinen trüben Gedanken immer mehr in einem Stimmungstief. Meine Schwester gab mir dann einen entsprechenden Arschtritt, der mich zurück ins Leben holte. Ich zog bei ihr ein, und sie und ihre Freunde nahmen mich einfach so wie ich war.

Ich traute mich wieder raus und ergriff die Flucht nach vorn: Ich begann eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. In einem Reformhaus hatte ich eine coole Chefin, die mir, anstatt meine Tics zu thematisieren, einfach eine Jahrespackung Johanniskraut in die Hand drückte. Ganz anders die Kunden in dem Laden, die ihre Margarine auspendelten. Von wegen Toleranz! Von denen bekam ich viele böse Sprüche gesteckt. Einmal gab eine Kundin ein Brot an der Kasse zurück mit den Worten: 'Das will ich doch lieber nicht, weil ich mich nicht anstecken möchte bei dem Herrn.' Erst dachte ich: Wie blöd kann man sein. Aber so was sticht dann schon.

Auf der Straße gucken mache Leute zwar komisch oder lassen auch mal einen Spruch los. Aber richtige Diskriminierung oder Ausgrenzung habe ich bislang kaum erlebt. Manchmal läuft so etwas allerdings subtil ab. Kürzlich regte sich in einem Café ein Gast über meine Geräusche auf. Glücklicherweise bin ich nicht auf den Mund gefallen. Also antwortete ich: 'Manche Leute sind einfach nur doof, dann kann ich ja froh sein, dass ich nur Tourette habe.' Daraufhin ist der Typ aufgestanden und gegangen.

Die Serie "ÜberLeben"

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen und wie Menschen aus Krisen wieder herausfinden. Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de.

Oder als ich einmal im Kino vor einer Vorstellung von "Vincent will Meer" Flyer über Tourette verteilte, wurde die Infobroschüre häufig abgelehnt mit den Worten 'Ne danke, das will ich nicht wissen.' Schräg. In der Vorstellung dann wurde ich zurechtgewiesen, ich solle mich mal zusammenreißen. Dabei geht es in diesem Film ja bekannterweise um das Tourette-Syndrom.

Es wird immer intolerante Menschen geben

Hin und wieder denken auch Betrunkene, dass ich sie provozieren will. Einmal kam ich in eine brenzlige Situation, als mich eine Gruppe Jugendlicher umzingelte, die Stress suchten. Zuerst machten sie meine Tics nach und wurden immer aggressiver. Ich versuchte mich in Deeskalation - und bin lieber abgehauen. Manchmal bringt Aufklärung auch einfach nichts. Es wird immer intolerante Menschen geben.

Wenn ich konzentriert, entspannt oder auch erschöpft bin, dann melden sich meine Tics seltener. Arbeite ich etwa an einem neuen Song, dann habe ich auch mal zwei Stunden Ruhe.

Als junger Mann las ich in einem Anzeigenblättchen die Annonce einer Boyband und bewarb mich. Das fand ich lustig, weil ich schon wusste, dass ich so gar nicht in das Klischee eines Schönlings reinpasste. Tatsächlich aber fanden die mich gut und nahmen mich als Sänger in ihre Combo auf. Zwei Jahre hatten wir ziemlichen Spaß, dann lösten wir die Band auf. Mit einem Kumpel machte ich als Duo weiter. In der Talentshow 'X Factor' kamen wir sogar ziemlich weit - einer der Juroren nannte meine Tics 'extra Skills' - und fand die ganz erfrischend.

Musik zu machen war immer eine Ruheinsel für mich. Früher war ich Singer/Songwriter, heute mache ich als Solokünstler vor allem Funk und Rhythm & Blues (hier eine Hörprobe). Beim Singen ist alles anders:

Mich persönlich stören meine Tics eigentlich nur, wenn ich minutenlang rumzappele oder einen Satz nicht zu Ende bekomme. Allerdings habe ich die kleinen Tics inzwischen völlig integriert und könnte mir gar nicht vorstellen, wie ich als Person ohne sie wäre.

Schön wäre es, einfach nur als Mensch wahrgenommen zu werden.

Zweifellos könnten einige in der Hinsicht von Kindern lernen. Die sind sehr viel unbefangener, direkter, erfrischender und stellen schnell die Frage: 'Warum zappelst du denn so?' Die Eltern reagieren dann oft ungehalten und schimpfen: 'Das kannst du den Mann doch nicht fragen.' Aber doch! Genau das kann man den Mann fragen! Kommunikation und Aufklärung sind das A und O."

__________________________

Jean-Marc Lorber, 38, hat eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann und später noch als Ernährungsberater absolviert. Er lebt in Stuttgart und hat gerade sein erstes Hörbuch veröffentlicht: Tourette in my head. Von der Kunst, anders zu denken und zu leben. Er lebt in Stuttgart, gibt Seminare über Toleranz (direkte Anfragen via Facebook) für die Tourette-Gesellschaft, den Interessenverband Tic & Syndrom IVTS und die Lebenshilfe e. V. Zudem kann er direkt gebucht werden: Entweder via Facebook oder per Mail. Seine Selbsthilfegruppe "Tourette und ADHS" trifft sich jeden dritten Freitag um 19.45 Uhr in den Räumlichkeiten der KISS Stuttgart.

Überleben

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlebnissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen. Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

  • ÜberLeben "Tourette hat eben nichts mit 'Arschloch' zu tun"

    Jean-Marc Lorber hat das Tourette-Syndrom. Was er sich auf der Straße deshalb schon anhören musste und warum er ohne obszöne Worte auskommt.

  • Shufan Huo Die Not nach dem Trauma

    Durch Zufall gerät eine junge Ärztin in die Katastrophe auf dem Berliner Breitscheidplatz. Sie hilft sofort, wird selbst aber mit quälenden Gefühlen allein gelassen. Sie ist nicht die Einzige.

  • "Unsere gemeinsame Zeit war einfach vorüber"

    Trennungen tun meistens weh. Doch wie ist das, wenn man älter ist - und sich mit 60 noch einmal völlig neu orientieren muss? Eine Psychotherapeutin berichtet.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: