Tomatenzüchter:Der Kaiser der Paradeiser

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Auf der Suche nach dem ultimativen Geschmack: Der Österreicher Erich Stekovics züchtet Tausende Tomatensorten.

Sebastian Herrmann

Der Kaiser der Paradeiser residiert in Frauenkirchen. Eine kleine Gemeinde ganz im Osten Österreichs zwischen Neusiedler See und der Grenze zu Ungarn. Die pannonische Tiefebene besteht im Wesentlichen aus plattem Boden unter endlosem Himmel.

Grün, weiß, rot, gelb: Mehr als 3200 Tomatensorten kämpfen auf Herrn Stekovics Feld ums Überleben. (Foto: Foto: Stekovics)

Hier gedeihen die Untertanen des Kaisers: Paradeiser oder Paradiesäpfel. So nennen Österreicher Tomaten, und niemand in Europa baut mehr unterschiedliche Arten an als Erich Stekovics. Mehr als 3200 Tomatensorten kämpfen auf seinen Feldern in Sichtweite der barocken Kirchtürme gegen Hitze und Trockenheit. Grüne, gelbe, blaue, fast schwarze Exemplare. Tomaten, die aussehen wie faltige Geschwulste. Gelbe Früchte von der Größe einer Murmel, die in dichten Rispen am Kraut reifen. Fleischparadeiser, Salatparadeiser. Hohle Früchte, gestreifte, runde, längliche. Tomaten, die zuckersüß, wie Kiwi oder nach Kartoffeln schmecken. Wer soll das alles kaufen, Herr Stekovics? Wer isst diese exotischen Tomaten?

"Es geht mir darum, Vielfalt zu bewahren, wir bauen an, um zu erhalten", sagt der 41-Jährige. Wer wisse denn schon, dass es so viele unterschiedliche Tomaten gibt? Oder Chili und Paprika, von denen Stekovics 680 verschiedene Sorten anbaut, dazu 70 unterschiedliche Gurken, Dutzende Auberginen, Knoblauch, Maulbeeren, Himbeeren, Erdbeeren. ,,Natürlich könnte ich zehn Tomatensorten identifizieren, die besonders schön aussehen und am besten schmecken und sie verkaufen'', sagt Stekovics. ,,Aber was passiert dann mit all den anderen? Mit all den verschiedenen Aromen und Geschmäckern?'' Stekovics blickt zum Himmel, wenn er von Aromen zu schwärmen beginnt und lächelt entzückt.

,,Geschmack erzählt in schönster Weise vom Himmel'' ist in eine Steinplatte von der Gestalt eines Grabmals gehauen, die vor dem Betrieb am Rande Frauenkirchens steht. Stekovics wollte ursprünglich Priester werden, studierte einige Semester Theologie, erteilte Religionsunterricht, bevor ihn das Gemüse zurück nach Frauenkirchen holte und Stekovics das, was er von seinem Vater gelernt hatte, zum Beruf machte: die Landwirtschaft, den Gartenbau. Die Sinnsuche wich der Suche nach Aromen.

In den Regalen der Supermärkte sind diese längst nicht mehr zu finden. "Ich habe den Glauben an den Konsumenten verloren", sagt Stekovics. Was der Kunde nicht kenne, was ihm seltsam erscheine, das kaufe er nicht: Eine Supermarkttomate hat fest zu sein, knallrot und prall. Ohne Falten, ohne Risse, sonst lässt der Konsument sie liegen. Die Industrie bedient dabei hemmungslos die eigenen Bedürfnisse: Obst oder Gemüse müssen resistent gegen Schädlinge sein, der Ertrag so hoch wie möglich, die Früchte sollten sich gut lagern lassen und einen Transport durch Europa überstehen.

Letzteres ist den industriellen Züchtern eindruckvoll gelungen. Nur sind dabei Früchte entstanden, die kaum noch Aroma in den Gaumen bringen. Etwa die legendäre Hollandtomate. Oder die Erdbeersorte Elsanta, die in Deutschland einen Marktanteil von fast 75 Prozent hat. Sie sieht schön aus, ist fest und lagerfähig. Dass sie fast keinen Geschmack hat, stört die wenigsten Kunden.

"99,9 Prozent der Tomaten, die wir essen, hängen am Tropf", sagt Stekovics. Bei solchen Sätzen blickt er sein Gegenüber direkt an, alles Schwärmerische ist aus dem Gesicht gewichen. Auf konventionellen Tomatenplantagen steckten die Wurzeln der Pflanzen in einem Gefäß von der Größe eines Wasserglases, das mit Nährstofflösung gefüllt ist, sagt der Landwirt."

Aber es sind doch die Wurzeln, die das Aroma transportieren, die Mineralien aus dem Boden sammeln." Und das dürfe auch nicht auf zu viele Früchte pro Pflanze verteilt werden. Stekovics erntet im Schnitt ein bis zwei Kilogramm Tomaten je Pflanze. "Hochleistungssorten schaffen 65 Kilo."

Gemüse von den Amish People

Langsam beginnt sich der Markt zu bewegen. Der Biotrend hat einer wachsenden Zahl von Kunden Mut gemacht, auch ungewöhnlichen Früchten zu vertrauen. Wissenschaftler haben Geschmack wieder als Zuchtziel entdeckt. Es gibt Labore, die versuchen Aromen längst vergessener Fruchtsorten in neue, leistungsfähige Pflanzen einzukreuzen.

"Viele alte deutsche Paradeiser-Sorten kommen aus Amerika zurück, wo sie in Privatgärten angebaut wurden, bei den Amish People zum Beispiel", sagt Stekovics. Andere Tomaten entdecken Züchter in Ländern wieder, in denen die Agrarindustrie noch nicht so entwickelt ist. Dort wo die Menschen noch zur eigenen Versorgung Gemüse anbauen, dort leben die alten Sorten. Deren Saatgut sammeln private Netzwerke wie Arche Noah in Österreich, oder internationale Organisationen wie Pro Species Rara.

Kommerzielle Züchter unterhalten Saatgutbanken, ebenso Universitäten oder öffentliche Einrichtungen wie das Institut für Züchtungsforschung an Kulturpflanzen, das in Dresden-Pillnitz Europas größte Erdbeersammlung unterhält. Die größte Sammlung von Tomatensorten, die nicht nur in Samentütchen gelagert wird, sondern auf dem Feld steht, die wächst nahe Frauenkirchen: die Untertanen des Kaisers der Paradeiser.

Wenn der zweifache Vater über seine Felder streift, fährt er ständig mit seinen Händen durch das Kraut der Tomatenpflanzen. Zupft Blätter, prüft Paradeiser, drückt das Laub, nicht zu fest, und riecht. Schmeckt, probiert, kaut. Bereits bei der Saat beschnüffelt Stekovics die kleinen festen Körner, aus denen die Tomate wachsen wird. Steckt sie sich in den Mund. "Schon in den Samen kann man erahnen, wie die Paradeis, die daraus wachsen wird, einmal schmeckt."

Doch wie lassen sich Kunden finden, die für gutes Gemüse auch gutes Geld bezahlen? "Wir müssen Geschichten erzählen", sagt Stekovics. So wie Winzer und Weinhändler Legenden rund um ihr Produkt ranken. Nach den Geschichten zu seinen Tomaten muss Stekovics nicht lange suchen, sie stecken schon in den Namen der alten Sorten. Etwa die Russische Reisetomate. Die Frucht sieht aus wie mehrere rote Knoblauchzehen, die sich zu einem großen Geschwulst vereinigt haben. "Diese Paradeis hat man früher als Proviant auf Reisen mit der transsibirischen Eisenbahn mitgenommen", sagt Stekovics. An jeder Haltestelle lösten die Reisenden eine der Tomatenzehen aus der Frucht, erzählt die Legende.

Oder die Geschichte von der Erdbeere namens Mieze Schindler. Die kreuzte Ökonomierat Otto Schindler in den 1920er Jahren in Dresden-Pillnitz aus einer Wald- und einer Gartenerdbeere. Die launische Frucht, die schnell matschig wird, aber umwerfend schmeckt, taufte der Züchter mit dem Kosenamen seiner Gattin: Mieze Schindler. Noch heute gedeiht die Erdbeere auf dem Grab Otto Schindlers nahe Dresden. In Frauenkirchen baut Erich Stekovics die Erdbeere an, verarbeitet das Aromenwunder zu Marmelade und erzählt seinen Gästen, die er in den Sommermonaten bei organisierten Führungen auf seinem Betrieb empfängt, vom Ehepaar Schindler.

Stekovics ist ein Aushängeschild für Frauenkirchen geworden. In den Gasthäusern stehen seine Paradeiser auf den Speisekarten. In einem Film, den arte über ihn gedreht hat, lobt ihn der Landeshauptmann des Burgenlandes. Preise gewinnt er, so genannte Awards der Spitzengastronomie. Trotzdem, all das reicht nicht, um im großen Umfang Tomaten, Paprika und die anderen Früchte zu verkaufen. Auch Stekovics ist den Faktoren, die den kommerziellen Erfolg eines Gemüses bedingen, unterworfen: Ertrag, Lagerfähigkeit - beides kaum vereinbar mit exzellentem Geschmack.

Für dieses, sein höchstes Ziel, zögert Stekovics den Erntezeitpunkt so lange es geht hinaus. "Erst wenn die Frucht auf dem Weg ist, sich zu verabschieden, dann ernten wir." Das bedeutet aber auch, dass die Tomaten weich sind und Risse haben. Sie stecken zwar voller Geschmack, sind aber kurz vor dem Platzen. Mehr als ein, zwei Kilometer Transport überleben diese Tomaten nicht. Lagern lässt sich die frische Ware auch nicht. "Deshalb verarbeiten wir 97 Prozent unserer Ernte." Zu Marmelade aus der Mieze Schindler oder dem Gelben Johannisbeerparadeis, der so viel Pektin enthält, dass er fast von allein geliert. Vieles legen Stekovics und seine Mitarbeiter ein: Gurken, Paprika und Chilis. Alles in Handarbeit bis spät in die Nacht. Manchmal 20 Stunden am Tag.

800 Meter Wurzeln

Bleiben also Tomatensorten wie die zuckersüße Black Plum, die fleischige Schlesische Himbeere, die Goldkugel oder die hohle Yellow Stuffer auf ewig nur ein edles Nischenprodukt?

Möglich. Doch vielleicht bricht soeben die große Zeit alter Sorten an. Nicht nur durch das erwachende Interesse kommerzieller Züchter, sondern auch durch den Klimawandel. "Das ist die große Chance der alten Sorten", sagt Stekovics. Er prüft bereits deren Hitzeresistenz, sucht Sorten, die ihre Wurzeln besonders tief in den Boden schlagen. Stekovics bewässert keine seiner Tomatenpflanzen. "Die müssen sich selber durchkämpfen."

Dem Geschmack zuliebe. So treiben die Pflanzen ihre Wurzeln besonders tief in den Boden. Wissenschaftler der Universität Innsbruck verglichen 2006 das Wurzelwerk von Tomatenpflanzen auf dem Betrieb in Frauenkirchen mit denen von bewässerten Pflanzen in Ravenna. Stekovics durstige Paradeiser wuchsen auf einem Wurzelgeflecht von einer Gesamtlänge bis zu 800 Metern - viel mehr als das, was die verwöhnten Tomaten aus Italien vorweisen konnten.

So kitzelt Stekovics das Aroma aus den Pflanzen und selektiert die Sorten, die dem Klimawandel begegnen sollen. Er habe bereits Kunden aus dem Nahen Osten, die sich für hitzeresistente Sorten mit Geschmack interessieren. Kunden, die nur "das Beste vom Besten" wollen. "In Sachen Aroma."

Erich Stekovics steckt sich einen Gelben Johannisbeerparadeis in den Mund. "Meine Lieblingssorte." Stekovics kaut und lächelt. Sein Blick entrückt wieder in den weiten Himmel über Frauenkirchen.

© SZ vom 14.8.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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