Tönnies-Skandal:Stecken bleiben im Schlamm

Vom Elend der Menschen und der Tiere: Eine kleine Geschichte der Schlachthöfe.

Von Joachim Käppner

Die Zeiten waren schon zu schlecht, um das Stück noch am Theater aufzuführen. Aber immerhin, Radio Berlin spielte 1932 Bertolt Brechts "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" als Hörstück; und die Inszenierung wurde eine Sensation. Dies lag, neben der sozialrevolutionären Wucht des Stücks, nicht zuletzt an der jungen Frau, die der Johanna die Stimme gab, der charismatischen Schauspielerin Carola Neher, die sich für Brechts sozialistische Ideale begeisterte und schon die Polly in seiner "Dreigroschenoper" gespielt hatte.

In "Black Rain" jagt Michael Douglas einen Yakuza-Boss zwischen Rinderhälften

Die "heilige Johanna" ist eine Predigerin der Heilsarmee, Johanna Dark; sie will die geknechteten Arbeiter des Schlachthofs von Chicago durch Gottes Liebe erlösen. Das geht nicht gut. Denn die Fleischfabriken der Union Stockyards sind für Brecht jener Ort, an dem sich alles Übel kapitalistischer Allmacht, Ausbeutung und Menschenverachtung in dreister Offenheit zeigt. Und weit von der Wahrheit war er damit nicht. 1906 hatte das Buch "Der Dschungel" des US-Autors Upton Sinclair Amerika erschüttert, in dem er die Union Stockyards beschreibt als Hölle, eine "wahre Festung der Unterdrückung". Hier schuften Immigranten wie Sklaven für übermächtige Fleisch-Trusts; die Männer und Frauen verkrüppeln und sterben durch die unmenschliche Arbeit, es bleibt ihnen "keine Zeit zum Denken, keine Kraft für irgend etwas anderes", während von den Galerien aus betuchte Touristen dem Treiben zusehen. Das sind die Verhältnisse, gegen die Johanna am Ende des Brecht-Stücks den Umsturz heraufbeschwört:

"Und auch die, welche ihnen sagen, sie könnten sich erheben im Geiste / Und stecken bleiben im Schlamm, die soll man auch mit den Köpfen auf das Pflaster schlagen. Sondern / Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht ..."

Man hatte fast vergessen, dass es diese Orte überhaupt gibt

Sehr weit von der Revolution entfernt, im Kreis Gütersloh, haben sich ebenso viele Schlachthofarbeiter wegen der üblen Bedingungen, in denen sie hausen, mit dem Coronavirus infiziert, dass die Öffentlichkeit erstmals wieder wahrzunehmen scheint: Es gibt sie noch, die Orte des massenhaften, automatisierten Tötens jener Tiere, die wir täglich verspeisen. Man hatte es ja fast vergessen.

Über viele Jahrzehnte galten Schlachthöfe und ihre Umgebung als ebenso abstoßender wie faszinierender Ort; viele Bücher und Filme spielen dort, wo der Geruch von Blut, zerteilten Tierkörpern und Angst durch die Straßen der Armen wabert, wo Gangster und Ausgestoßene leben. Döblins "Berlin Alexanderplatz" schildert den Schlachthof als entmenschlichten Ort des Verbrechens an der Kreatur: "Die Augen sind ganz starr, blind. Es sind tote Augen. Das ist ein gestorbenes Tier." Und "Slaughterhouse Five" (Schlachthof Fünf) des US-Schriftstellers Kurt Vonnegut greift dessen Erlebnisse als Kriegsgefangener in den Katakomben des Dresdner Viehhofs auf, während der Feuersturm der Bombennacht 1945 tobt, das Schlachthaus als Symbol einer Epoche der Gewalt. Im Hollywood-Thriller "Black Rain" jagt Michael Douglas zwischen aufgehängten Rinderhälften einen Yakuza-Boss: Schlachthöfe als urbaner Mythos.

Aus den Schlachthofvierteln sind in vielen Städten schicke urbane Quartiere geworden

Historisch waren sie ein Produkt der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert. Damals nutzte es nichts, neue Schlachthöfe in angenehmer Distanz zur Stadt zu errichten, denn die Stadt selbst wuchs und wucherte rasant, bald schon waren sie von den Mietskasernen der Lohnarbeiter umgeben. Und das Schlachthofviertel galt bald als eines derjenigen, in das man sich besser nicht begab. Noch in den "München Blues"-Krimis von Max Bronski gilt der Kiez, in den die Tiertransporte rollen, als ein halb vergessener Ort, in den man "in der Trainingshose, mit einem Adelskrone-Pils ums Arbeitsamt schleicht und abends seine Frau verprügelt". Allerdings hat die Gentrifizierung längst begierig nach dem Viertel gegriffen, und die dorthin gezogenen Theater und Restaurants werben mit dem düsteren Zauber, den sie ihm gleichzeitig so nachhaltig austreiben. Meistens sind die Schlachthöfe weggezogen, noch weiter nach draußen, gesichtslose Fabriken der Verwertung. Die Bewohner der Stadt hören, riechen, sehen davon so wenig wie von den Lohnknechten aus der Fremde, die dort ausgebeutet werden. Den alten Schlachthof von Chicago gibt es nicht mehr; der einst verrufene Meat Packing District von Manhattan ist heute ein Szeneviertel, ein Museum seiner selbst.

So wie die Revolution, von der die heilige Johanna der Schlachthöfe sprach. Nicht der Kapitalismus schlug am Ende mit dem Kopf aufs Pflaster, sondern die Frau, die ihr die Stimme gab. Carola Neher floh 1934 vor den Nazis in die Sowjetunion, dort geriet sie in ein Mahlwerk des Todes, das die Menschen traf, die Massenmorde des "Großen Terrors" Stalins. Sie starb 1942 in einem Arbeitslager. Bertolt Brecht, der Dichter des Sozialismus, erhob seine Stimme nicht für sie.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: