Todkranke:Letzte Rettung

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Sabine Stiegler und Bernd Stiegler schauen mit ihrem an MS erkrankten Sohn Kai Stiegler am 24.04.2016 das Fußballspiel VfB Stuttgart gegen FC Union Berlin in Stuttgart an. (Foto: Verena Müller)

Noch einmal ans Meer, noch einmal ins Stadion, noch einmal an einen Ort der Kindheit - der "Wünschewagen" erfüllt die letzten Wünsche von Sterbenden.

Von Ulrike Nimz, Dresden/Stuttgart

Wäre dies ein Film, er begänne mit einer Rückblende in die Zeit, in der alles gut war. Wir sehen einen Jungen, er muss um die zwölf sein, an der Hand seines Vaters. Sie stehen in der Lobby eines Hotels. Sie warten auf den Fahrstuhl, der sie zu ihrem Zimmer bringen soll. Die Stuben heißen wie Weinsorten, "Grüner Veltiner", "Weißburgunder".

Die Familie verbringt ihren Urlaub hier. Der Junge trägt ein Trikot des VfB Stuttgart, Nummer 11. Die Fahrstuhltüren öffnen sich, drinnen lehnt, im roten Adidas-Pullover, Fredi Bobic. Er grinst, als er den Jungen sieht, der seinen Namen auf dem Rücken trägt. Der Junge guckt auf seine Füße, bringt kein Wort heraus, bis der Vater sagt: "Möchtest du kein Autogramm haben?" Der Junge nickt, er hält die Luft an, als Bobic auf dem glänzenden Stoff unterschreibt: "Für Kai".

Bernd Stiegler hat die Erinnerung an den Tag, als sein Sohn zufällig auf sein Idol traf, gehütet und gepflegt. Hat sie erzählt, wann immer der Anlass passend erschien, und dabei poliert wie Glas, das nicht trüb werden darf. Die Erinnerung hat ihm geholfen, eine Entscheidung zu treffen, als sein Sohn schon so krank war, dass er nicht mehr sprechen konnte.

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Wäre dies ein Film, es wäre ein Roadmovie. Wie "Knockin' on Heaven's Door" oder "Das Beste kommt zum Schluss". Das Kino schickt gern Todkranke auf große Reise, weil im Schatten einer schlechten Prognose die Emotionen gedeihen, alles egal wird und alles wichtig. Kai Stiegler, 32, seit zehn Jahren an einer aggressiven Form der Multiplen Sklerose erkrankt, wird mit seinen Eltern nach Stuttgart fahren, zu einem Heimspiel des VfB. Noch einmal gemeinsam im Stadion - das hätte ihr Sohn so gewollt, sagen die Eltern.

In Filmen kommt am Ende manchmal die große Wendung, alles ein Irrtum, wundersame Heilung. Kai Stiegler starb, bevor dieser Text gedruckt werden konnte. Er handelt von seinem letzten Wunsch und den Menschen, die ihn möglich machten.

Einmal blinzeln heißt ja, zweimal blinzeln nein

Dresden, 9 Uhr, ein Parkplatz in der Nähe des Großen Gartens. Seit zweieinhalb Jahren lebt Kai Stiegler hier in einem Heim für junge Menschen mit Behinderung. Die Entzündungen in seinem Körper haben dazu geführt, dass er nur noch die Augen bewegen kann. Die Eltern sagen, sie wissen, was ihr Sohn denkt. Einmal blinzeln heißt ja, zweimal blinzeln nein. "Er ist wacher heute", sagt ein Pfleger, als er den jungen Mann in den Rettungswagen schiebt.

Der "Wünschewagen" ist länger als ein normaler Krankenwagen. Er hat Gardinen vor den Fenstern und dimmbares Licht. Es gibt einen Fernseher und mit Sternen bedruckte Bettwäsche. Defibrillator, Inhalation, Infusion. Schwerstkranke Patienten, so die Philosophie, sollen nicht transportiert werden, sie sollen reisen. Zu Verwandten, an den Ort ihrer Kindheit, zum Fußballspiel oder ans Meer. Bedingung: Das Ziel muss an einem Tag erreichbar sein.

Seit September 2014 ist der "Wünschewagen" des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) auf der Straße, zuerst nur im Ruhrgebiet, in Sachsen seit Dezember 2016. In Warnemünde nahm Franz Müntefering jüngst das zehnte Fahrzeug in Betrieb. Blaues Auto vor blauem Himmel - solche Bilder sind wichtig für ein Projekt, das sich durch Spenden, Mitgliedsbeiträge und Sponsoren finanziert. 100 000 Euro kostet ein umgebauter Rettungswagen. Die Fahrt selbst kostet Passagiere und Angehörige nichts. Die Begleitung übernehmen Teams aus Sanitätern, Pflegern und Palliativmedizinern. Sie alle arbeiten ehrenamtlich.

Karsten Queitzsch ist der Fahrer an diesem Tag. Mit Glatze und Poloshirt sieht er aus wie der Drogenfahnder Hank Schrader aus der Fernsehserie "Breaking Bad". Eigentlich hat Queitzsch heute Urlaub. Aber eigentlich wollte der Mann auch Lkw-Fahrer werden, und nun sitzt er seit 20 Jahren hinter dem Steuer eines Rettungswagens.

Queitzschs Revier ist der Leipziger Osten, die Eisenbahnstraße, der ein Boulevard-Magazin mal den Titel "gefährlichste Straße Deutschlands" verlieh. Im Wagen führen sie Sicherheitswesten, stich- und schusssicher bis neun Millimeter.

Zwölf Minuten - länger dürfen Rettungssanitäter nicht brauchen, um vor Ort zu sein. Oft sind sie schneller als die Polizei, stoßen nicht nur auf Notfälle, sondern auf Betrunkene, Methheads, Schläger. "Dann parkst du vor der Disco, schaust 20 Typen beim Prügeln zu und versuchst, nicht mitzumachen", sagt Queitzsch.

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Wann immer im deutschen Gesundheitswesen etwas schiefläuft, auf der Straße merken sie es als Erste. Der Notruf sei längst eine Hotline geworden, sagt Queitzsch. Die Leute wählten ständig die 112, wenn sie Kopfschmerzen haben, keinen Facharzttermin, wenn sie einsam sind. Einmal habe jemand angerufen und gesagt, in seiner Wohnung liege ein verletztes Kind. Als die Retter die Tür aufgebrochen hatten, gab der Mann zu, nur seinen Schlüssel verloren zu haben. Warum gleich opfert Karsten Queitzsch seinen Urlaub?

Wenn Krankheit in das Leben sickert

Neulich habe er den Wünschewagen durch Hamburg gelenkt, erzählt Queitzsch. Ein Busfahrer, 56, Lungenkrebs, wollte noch einmal den Hafen sehen. Sie fuhren zu Planten un Blomen und auf die Köhlbrandbrücke bei Nacht. Man kann auf den 3618 Metern nicht parken, also schaltete Queitzsch in den ersten Gang, damit der Mann die Kräne sehen konnte und den Horizont. Der Fahrgast weinte und sein Fahrer vielleicht auch. "Solche Momente gibt es in meinem Beruf nicht so oft", sagt Queitzsch. Hinter ihm beginnt die Ernährungspumpe zu piepen. An der nächsten Raststätte setzt er den Blinker.

Bernd Stiegler hat Milka Tender und Kaffee gekauft. Sabine Stiegler kann nichts essen. Sie hat die Arme um den Oberkörper geschlungen. Die Sonne scheint, sie friert. Sie erzählt von dem Tag, als Krankheit in ihr Leben sickerte, dass Kais linker Arm ständig kribbelte, als wäre er eingeschlafen, nur sei er eben nie wieder aufgewacht. Als die Diagnose feststand, begannen die Eltern zu googeln. Sie dachten: MS - das bringt einen vielleicht in den Rollstuhl, aber es bringt einen doch nicht um.

Sabine und Bernd Stiegler stammen aus Stuttgart. Vor ein paar Jahren haben sie sich selbständig gemacht, in Dresden, mit einer Estrichfirma. Sie teilen die Liebe für Motorräder, Tattoos, Deep Purple. Jetzt sitzen sie schweigend in ihrem Auto. Vor ihnen fährt der Mercedes Sprinter, Nummernschild L-AS840. Auf dem Heck steht: "Letzte Wünsche wagen".

Sabine Stiegler starrt durch die Windschutzscheibe, die Hand ihres Mannes auf dem Knie. Dann dreht sie sich zu ihm, ihre Augen sind groß, die Fragen auch: Was passiert, wenn das hier vorbei ist? Kommt dann der Tod? Kommt er schneller? Wird es sein wie im Film, wenn der Held am Ende seinen Frieden macht? Wird es für uns Frieden geben oder nur ein Ende?

Kai Stiegler hat gegen seine Krankheit gekämpft. Je mehr sein Körper nachgab, desto widerständiger wurde sein Kopf. Er ging zum Zahnarzt, ließ sich die Füllungen herausbrechen, wollte an einen Irrtum glauben. Auch er hatte gegoogelt und war auf seine Symptome gestoßen: Zittern, Krämpfe, Geschmacksstörungen. In den Foren stand: Amalgamvergiftung, in den Foren stand: heilbar.

In Pflegeheimen fehlt Zeit und Geld

Kai Stiegler hat in Dresden Eventmanagement studiert, in New York wollte er arbeiten, aber schon beim Abschlussball mussten Freunde ihn stützen. Ein Jahr ist es her, dass er aufhörte zu sprechen, und Ärzte mit den Eltern zu sprechen begannen. Darüber, dass ihr Sohn an seiner Krankheit sterben wird, bald. Bernd Stiegler dachte an Fredi Bobic, und dass Kai schon einmal die Sprache versagt hatte, vor Überraschung und vor Freude. Er dachte darüber nach, ob sich so ein Moment noch einmal erleben ließe.

Nun ist so ein Leben selten filmreif und noch seltener hat es ein Happy End. Schwerstkranke können in Deutschland nicht darauf hoffen, dass sich ihre Wünsche erfüllen. Individuelle Sterbebegleitung gibt es wenn, dann nur im Hospiz. In Pflegeheimen fehlt Zeit und Geld. Es fehlt ein Gesetz, welches das ändert.

Man kann nicht sagen, dass Kai Stiegler Glück gehabt hätte, aber er hatte eine Pflegerin, der er wichtig war. Sie stellte den Kontakt zum Team des Wünschewagens her. Der VfB Stuttgart stellte eine Loge. Die Eltern stellten sich ihrer Angst: Patientenverfügung, keine Wiederbelebung, im Falle des Falles.

Durch Stuttgart wälzt sich hupendes Blech - Heimspiel trifft auf Canstatter Wasen. Der Wünschewagen schleicht vorbei am Break Dancer und Grandls Hofbräuzelt, Karsten Queitzsch brummt das Wort "Rettungsgasse". Kai Stiegler sitzt in seinem Rollstuhl, die Unterarme ruhen auf einem Kissen, darauf das Logo des VfB. Es ist schwer zu sagen, ob ihm das alles gefällt, das Klingeln der Karussells, das Stop and Go, die taumelnden Männer in ihren rot-weißen Trikots. Die Krankheit hat sich in sein Gesicht eingeschrieben, als Ausdruck andauernden Erstaunens.

20 Minuten vor Anpfiff ist es still in den Eingeweiden der Mercedes-Benz-Arena. Der Flur gleicht einer Ahnengalerie: ein verschwitzter Giovane Élber beim Fallrückzieher, ein schlecht frisierter Jogi Löw beim Herzen des DFB-Pokals. Draußen in der Kurve drehen sie ihre Schals wie Propeller, der Stadionsprecher dröhnt bis nach drinnen. Die Eltern beugen sich zu ihrem Sohn: "Ist es gut?" Kai Stiegler blinzelt, einmal nur.

© SZ vom 29.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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