Liebes Ei, du fabelhaftes Ding! Es ist Ostern, dein Fest! Endlich bekommst du die Aufmerksamkeit, die du verdienst. Jetzt hängst du ausgepustet und bunt bemalt an Sträuchern, liegst haufenweise als Schokolade in Osternestern oder landest hart gekocht auf dem Tisch. Dort bist du ein echter Verwandlungskünstler: Spiegelei, Rührei, Omelett, weiches Ei ...
Du hast deinen großen Auftritt, weil zu Ostern die Auferstehung Jesu gefeiert wird, seine Rückkehr zum Leben sozusagen. Du erinnerst die Menschen an neues Leben, schenkst ihnen Hoffnung mit deiner ulkigen Form. Und nicht nur das: Schon früh erkannten sie deine gelbweißen Qualitäten. Sie kochten mit dir, malten dich auf Kunstwerke, schrieben dir den Humpty-Dumpty-Song. Manche Völker glaubten sogar, die Erde selbst sei einst aus einem Ei geschlüpft. Obwohl das höchstwahrscheinlich nicht stimmt, bist du doch ziemlich beeindruckend. Du bist zum Beispiel irre stark, auch wenn deine Schale hauchfein ist, gerade mal 0,4 Millimeter dick, so viel wie vier Haare. Jeder, der schon mal versucht hat, dich roh zwischen Daumen und Zeigefinger zu zerquetschen, weiß das. Praktisch unmöglich. Deine Schale besteht aus Kalk, einem festen Mineralstoff, sehr clever. Dazwischen sitzen kleine Poren, die wie winzige Airbags Druck abfedern. Auch deine gebogene Form verhindert ein schnelles Brechen. Wenn man an einer Stelle drückt, verteilt sich der Druck auf deine ganze Oberfläche statt nur auf einen Punkt.
Überhaupt: deine Form! Dieses wunderschön handschmeichelnde Oval. Wärst du rund wie ein Golfball, würdest du einfach aus deinem Nest kullern. So aber eierst du nur herum, und kommst dann wieder zur Ruhe. Auch zum Kuscheln ist deine Form perfekt. Schlau angeordnet könnt ihr im Nest nah zusammenrücken und verliert so weniger Wärme. Das ist gut für das Leben, das in dir wächst. Und dem du eine schützende Hülle und Proviant schenkst, bis es schlüpft. Du bist phänomenal, liebes Ei. Lass es krachen. Aber nicht zu doll!