Thema der Woche:Auf geht's!

Als die Mauer im November 1989 fällt, ist unser Autor acht Jahre alt. Er weiß nichts von Ost und West und einer unüberwindbaren Mauer dazwischen - und verpennt die größte Party aller Zeiten. Vom Aufwachen in einem anderen Land.

Von Thilo Mischke

"Irgendwann, in der Nacht zum 10. November 1989 bin ich aufgewacht. Acht Jahre war ich alt - und durstig. Am nächsten Tag stand ein Russisch-Test an. Und ich hatte natürlich nicht gelernt. Mit halb geöffneten Augen bin ich durch die Wohnung geschlurft. Es war dunkel und ruhig. Nur der Fernseher im Wohnzimmer lief. "Was ist denn, Thilochen?" Meine Tante stand unerwartet vor mir und sagte, sie müsse auf mich aufpassen. Meine Eltern wären in Westdeutschland.

"Aha", habe ich gesagt und es nicht verstanden. Deutschland, das war für mich der Weg zur Schule. Zehn Minuten laufen, zwei Stationen mit der U-Bahn und dann noch mal zwei mit der Straßenbahn. Deutschland war der Tierpark Berlin, die große Schwimmhalle mit Wellenbecken, Computerspielautomaten und Bouletten mit Senf bei Oma, die auch einen Farbfernseher hatte.

Von Westen und Osten und einer Mauer, die Menschen nicht überwinden können, wusste ich nichts.

Am nächsten Morgen lagen neben meinem Bett ein Magazin namens Flohkiste und ein Überraschungsei. Aus dem Westen. Das Silberpapier (so haben wir in Ostdeutschland Alufolie genannt, meine Eltern sagen das heute noch) war bunt bedruckt, in der Mitte ein Plaste-Ei (im Osten sagte man Plaste, nicht Plastik; sage ich heute noch). Mit Spielzeug drinnen. Das kannte ich nicht.

Berlin fühlte sich an diesem Morgen an wie ein 1. Januar. Eine große Stadt nach einem großen Fest. Die Menschen müde und erschöpft, meine Eltern schnarchend und unansprechbar.

Auch in der Schule war alles anders. Nur zwei von 30 Schülern saßen mit mir im Klassenzimmer, weit und breit kein Mathelehrer.

Irgendwann erschien unsere Klassenleiterin und sagte: "Ihr dürft wieder nach Hause, die Schule fällt aus." Warum? Frau Würger faltete die Hände auf ihrem Bauch: "Jetzt wird erst mal alles anders. Aber die Klassenarbeit, die schreiben wir nächste Woche nach.

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