Tennisfans:Wait and see

Wimbledon

Der Rasen: gepflegt. Und die Menschen: sehr geduldig. In Wimbledon muss man sich auf lange Wartezeiten für Tickets gefasst machen.

(Foto: Martin Wittmann)

Mit dem Brexit verliert die EU auch ein Stück der typischen britischen Gelassenheit. Nirgendwo ist sie so gut zu sehen, wie in der legendären Ticket-Schlange in Wimbledon.

Von Roman Deininger und Martin Wittmann

Das Schlangestehen von Wimbledon beginnt eigentlich bereits am Flughafen in München, denn schon hier offenbart sich das Wesen dieser Disziplin - und die Disziplin ihrer Wesen. Montagmorgen, es dauert an der Passkontrolle. Mittendrin steht ein Brite, gelassen und womöglich auch melancholisch, weil es ja das letzte Mal sein könnte, dass er sich in der Reihe für EU-Bürger anstellen darf. Das Warten setzt ihm nicht zu, stumm und schicksalsergeben demonstriert er, was Anstehen mit Anstand zu tun hat.

Hinter ihm steht ein Deutscher, wobei "stehen" den Vorgang nicht angemessen beschreibt: Er drängt. Beim Drängen findet er aber noch Zeit, sich fortwährend über die miese Organisation, die Raumtemperatur und nicht zuletzt über die Leibesfülle der Grenzpolizistin zu beschweren. Dem Deutschen würde es sicher nicht schaden, noch ein paar Jahre gemeinsam mit dem Briten in der EU zu verbringen. Egal, was man vom Brexit hält: Die britischen Steherqualitäten wird man vermissen.

Es ist kein Zufall, dass die legendärste Warteschlange der Welt, "The Queue", in London zu finden ist, und dort im Stadtteil Wimbledon, wo sich dieser Tage wie jedes Jahr Zehntausende Tennisfans anstellen, um Karten für das bedeutendste aller Turniere zu bekommen.

Und dann singt der örtliche Chor ein "Abba"-Medley, dem sich keiner entziehen kann

Die prächtige Anlage des All England Clubs mit ihren 18 Tennisarenen fasst 39 000 Besucher - die allermeisten haben ihre Tickets lange vorher gekauft. Doch im Gegensatz zu fast allen anderen Großveranstaltungen setzt Wimbledon nicht alle Karten im Vorverkauf ab. Der All England Club gibt sich auch hier so altmodisch wie nobel: Wahre Tennisfans sollen die Gelegenheit haben, ihre Helden live zu sehen, ohne auf pures Glück in der Online-Ticket-Lotterie hoffen zu müssen.

Täglich werden noch mindestens 1500 Karten frei verkauft. Genug, um Fans aus der ganzen Welt anzulocken - aber zu wenig, als dass diese morgens gemütlich an die Kasse spazieren könnten. Einen Tag vorher sollten sie schon da sein, um mehr oder minder sicher Karten zu kriegen, was das Anstellen eher zu einem Anliegen macht: Eine Wiese im Wimbledon Park dient als Campingplatz. Veteranen wissen die Wiese sehr zu schätzen - bis 2008 mussten sie auf dem Gehsteig biwakieren.

Der Tennisfreund findet sich also schon lange vor dem ersten Aufschlag auf dem berühmten Rasen von Wimbledon wieder, wenngleich auf einem etwas weniger heiligen Teil. Für Ordnung im Camper-Chaos sorgen Dutzende Stewards und ein Guide-Buch, das Regeln für das korrekte "Queuing" beinhaltet. Es umfasst 32 Seiten. Reglementiert ist so ziemlich alles, vom Fassungsvermögen nachfüllbarer Wasserbehälter (0,5 Liter) bis zur Maximalzahl mitgeführter Champagnerflaschen (eine). Ganz schwerer Schlag für Japan: Selfie-Sticks sind ausnahmslos verboten.

Es ist Montag, 13.42 Uhr, die Sonne scheint britisch zurückhaltend, 22 Grad, als man an der Wiese ankommt, im Gepäck ein Wurfzelt, Schlafsäcke, Isomatten und ein Einkauf (Kekse, Wasser, Wein, Chips, die Times). Hunderte Zelte stehen bereits, und vor dem letzten, in vierter Reihe, weht eine Fahne, auf der ein großes "Q" das Ende der Schlange anzeigt. Wimbledon ist ein zweiwöchiges Hochamt der Tradition, und während man anderswo nun sicher mit dem Handy einen Barcode scannen müsste, überreichen hier die Stewards den Neuankömmlingen je ein edles Stück Karton. Ihre "Queue Cards" sind fortan der wertvollste Besitz der Wartenden, vergeben in der Reihenfolge ihres Erscheinens. In diesem Fall: Nummern 713 und 714.

Wimbledon

Vorfreude ist die schönste Freude. Das gilt vor allem auch für die Tennisfans, die unbedingt das berühmteste Turnier der Welt live erleben wollen.

(Foto: Martin Wittmann)

Außerdem drücken einem die Stewards das Guide-Buch in die Hand, flankiert von weiteren höflichen, aber zwingenden Ratschlägen. Das Zelt nicht zu weit entfernt vom Nachbarn aufstellen, und der Eingang solle sich zum Weg öffnen, please, für die Anwesenheitskontrollen. Denn eine Regel ist wichtiger als alle anderen, sie steht auf Seite 25: Eine vorübergehende Abwesenheit darf dreißig Minuten nicht überschreiten. Heißt: Wer sein Zelt aufschlägt und dann in den Pub geht, fliegt raus.

Wenigstens den Briten würden solche dreisten Betrugsversuche ohnehin nicht einfallen. "Das Schlangestehen", schrieb der Schriftsteller George Mikes, "ist die nationale Leidenschaft einer sonst leidenschaftslosen Spezies." Auf Englisch klingt "The Queue" ja auch ein wenig nach Luxushotel, man kann es kaum aussprechen, ohne einen Kussmund zu machen. Der Brite lässt deshalb kaum eine Chance ungenutzt, sich irgendwo anzustellen, von der Bushaltestelle bis zum Bankautomaten. Statistiker behaupten, dass der Durchschnittsmensch 52 Tage seines Lebens in Warteschlangen verbringt; beim Durchschnittsbriten sind es 67.

Der Verhaltensforscher David Savage hat vor einigen Jahren errechnet, dass 1912 beim Untergang der Titanic britische Passagiere eine um sieben Prozent geringere Überlebenswahrscheinlichkeit hatten als alle anderen Nationalitäten an Bord - mutmaßlich, weil sie sich selbst beim Schlangestehen um einen Platz im Rettungsboot an die Etikette hielten. Die Briten sind da unerschütterlich, in Wimbledon paradieren heute sogar die Enten auf dem Teich neben der Wartewiese in makelloser Formation.

Wimbledon

Geduld macht hungrig. Manchmal braucht es eine kleine Stärkung.

(Foto: Martin Wittmann)

Am Montagnachmittag wird der Spielplan für Dienstag bekannt gegeben, ein Raunen geht über den Campingplatz. Jetzt wird gerechnet. Um die Mathematik der Wimbledon-Schlange zu durchdringen, wäre ein einschlägiges Studium hilfreich. Täglich werden 500 Karten für den Centre Court vergeben, auf dem die prominentesten Spieler zu sehen sind. Weitere 500 für den Court Number 1 und 500 für den Court Number 2. Am Morgen des Spieltags werden die Schlangesteher von den Stewards gefragt, für welchen Court sie Tickets kaufen wollen. Genau eine Karte pro Person.

Auf Court Number 1 gibt sich Rafael Nadal die Ehre

Das heißt: Mit Wartenummer 713 hat man nur dann eine Chance auf einen Platz am Centre Court, wenn vorher 214 Fans einen anderen Court vorziehen - etwa, weil sie einen bestimmten Spieler sehen möchten. Weil aber an diesem Dienstag eigentlich alle den heiligen Roger Federer auf dem Centre Court sehen möchten, ist die Hoffnung gering. Der sehr annehmbare Trostpreis: Auf Court Number 1 gibt sich Rafael Nadal die Ehre.

Auf dem Campingplatz trifft man zwei Spanier, die ihren Jahresurlaub verbraten, um ihren "Rafa" rund um die Welt zu begleiten. Man begegnet auch einer Japanerin, die sich Federers Initialen hat tätowieren lassen. Die Nachbarzelte beherbergen eine Familie aus Texas, deren zehnjähriger Sohn bis zum letzten Licht des Tages mit dem Tennisschläger herumhüpft und Vorhände von einer technischen Perfektion über die Wiese schickt, dass er Wimbledon allerspätestens in sieben Jahren gewinnen wird. Die deutschen Reporter wollen da nicht nachstehen und beginnen ein Fußballspiel; ein eklatanter Mangel an technischer Perfektion führt jedoch nach zwei Minuten zu blutigen Verletzungen beider Akteure und zum Abbruch der Partie.

Es wird Abend. Und vor den Toilettenhäuschen warten Menschen mit Zahnbürsten

Plötzlich Gesang. Ein örtlicher Chor nutzt die Gelegenheit, vor einem großen Publikum, das qua Vorschrift nicht wegrennen darf, ein Abba-Medley zu schmettern. Der Refrain mit dem höchsten Identifikationspotenzial: "If I had a little money in a rich men's world." Für gut 1000 Euro könnte man vielleicht auch noch ein Ticket über halsabschneiderische Zwischenhändler ergattern; am Ende der "Queue" zahlen die Leute für ausgezeichnete Plätze nicht mehr als 70 Euro. Dafür investieren sie halt ein, zwei Tage Lebenszeit. Der große Andre Agassi hat mal gesagt, die "Queue" sei die schönste Liebeserklärung, die man als Sportler bekommen könne.

Wimbledon

Nur mit „Queue Card“ darf man sich in die Schlange einreihen.

(Foto: Martin Wittmann)

Um 18.57 Uhr an diesem Montag stellt Wartenummer 868 sein Zelt auf, später werden mehr als 1300 Menschen übernachten. Im Laufe des Morgens werden sich dann noch sehr viele Leute einreihen, die nur simple Einlasskarten für das Turniergelände im Auge haben, von denen es immer einige Tausend gibt. Insgesamt wird die "Queue" am Dienstag 12 000 Menschen zählen. Vor vielen Jahren stand auch mal eine junge Dame namens Kate Middleton in der "Queue"; heute ist für sie ein Platz in der königlichen Loge reserviert.

Abend auf dem Campingplatz. Die Leute spielen Frisbee oder Karten, lesen Zeitung oder machen Kreuzworträtsel. Manche schauen auf dem iPad die Übertragung der Spiele, die nur ein paar Hundert Meter entfernt stattfinden, in Hörweite. Der Besuch von Drogen- und Sprengstoffhunden bietet willkommene Abwechslung; die Tiere sind allerdings dezidiert nicht zum Schäkern aufgelegt. Einmal stalkt ein US-Fernsehteam die Camper mit einem Tennis-Quiz, bei dem man sich zum Affen machen muss, um eine Badeente zu gewinnen.

Es gibt leidlich saubere Toiletten, jedoch keine Duschen, daneben Essensstände mit italienischen Speisen in britischer Qualität. Restaurants lassen Speisekarten verteilen, man kann sich das "Take Away" an das Eingangstor des Parks bringen lassen - aber keinen Inch weiter, da tragen die Stewards Sorge. Unablässig treffen neue Camper ein, als Alteingesessener registriert man ihre Ankunft mit einer Mischung aus herablassendem Mitleid ("Amateure, die kriegen keine gescheiten Karte mehr") und mühsam unterdrückter Feindseligkeit ("Jetzt wird es eng hier"). Die Stewards patrouillieren in eifriger Ruhe durch die Reihen. Da sind die jungen Stewards, bezahlte Studenten, die friedlichsten Gelbwesten der EU. Und da sind die "Honorary Stewards", uniformierte Ladies und Gentlemen, ehrwürdig, aber auch ehrgeizig. Sehen sie ein verlassenes Zelt, sanktionieren sie diese Impertinenz mit einem Aufkleber: "Dieses Zelt ist seit mehr als 30 Minuten unbeaufsichtigt". An manchen Tagen müsse er gar niemanden rausschmeißen, erzählt ein Steward, an anderen gleich zwei. Oft seien es die Nachbarn, die Abwesende verpfeifen. In der Schlange ist der Mensch dem Menschen ein Wolf.

21 Uhr, dramatischer Zwischenfall. Ein Herr mit grauen Haaren hat zur Gitarre gegriffen. Ist das erlaubt? Sofort rücken zwei Stewards an. Zum Zuhören. An dieser Stelle lernt man einen feinen, sehr britischen Unterschied kennen: Gitarrespielen ist nicht erlaubt, aber in vernünftigen Grenzen toleriert. Dunkelheit fällt über den Zeltplatz, vor den Klos bilden Menschen mit Zahnbürsten routiniert Warteschlangen. Wer weiterführende hygienische Bedürfnisse hat, folgt dem Tipp alter Queue-Füchse: Tagespass im nahen Fitnessstudio kaufen. Zehn Pfund für eine Dusche.

Um 5.30 Uhr wird man von den Stewarts geweckt: Man möge bitte das Zelt abbauen

Eine junge Frau hat sich ohne Zelt hingelegt, das ist tapfer bei elf Grad, aber sie hat ja auch einen Power-Rangers-Schlafsack. Um zehn ist Bettruhe, die Stewards blicken gütig wie streng in die Runde. Jugendherbergs-Feeling mit Ende dreißig. Zu hören ist bald einzig ein gnadenloses Esperanto - Schnarchen als Weltsprache. Nachts wacht man einmal auf, weil offenbar irgendwer gegen das Zelt gerannt ist, womöglich der junge Texaner beim Volley-Training.

Um 5.30 Uhr wird man von den Stewards geweckt und im gleichen Atemzug um zügigen Zeltabbau gebeten. "Wir müssen eine dichtere Schlange bilden", sagt ein Steward. Wer denkt, dass ein in zwei Sekunden aufgeplopptes Wurfzelt ebenso schnell wieder zusammengefaltet ist, irrt übrigens sehr. Am Vorabend sind schmutzige Camper in den Zelten verschwunden; nun treten herausgeputzte Styler in Kleid oder Sakko ins Morgenlicht. Die Styler müssen aber erst mal in die nächste Schlange - für die Gepäckaufbewahrung. Ein Steward mahnt: "Ihr Gepäck könnte dem Protokoll entsprechend schon seit geraumer Zeit eingelagert sein." "Monty Python"-Filme wird man künftig mit anderen Augen sehen. Als man das Gepäck los ist, geht es endlich zurück in die richtige Schlange.

Angeführt wird sie von Steven, einem jungen Mann aus Manchester, Wartenummer eins. Er hat gleich drei Nächte gecampt, um sich die Pole Position zu sichern. Die Schlange windet sich in der Morgensonne kilometerlang durch den Park. Man steht mehr, als dass man geht. Motorisch betrachtet ist die Schlange eine Raupe. Um acht Uhr verteilen die Stewards von vorne her Armbänder: Wer ein gelbes bekommt, darf Centre-Court-Karten kaufen. Ein junger Italiener, der sein Zelt am Montag um zehn Uhr vormittags aufgeschlagen hatte, kriegt das letzte. Die Nummern 713 und 714 reichen für ein beiges Band: Court Number 1. Und so steht man also 24 Stunden nach der ersten Schlangenerfahrung am Flughafen München tatsächlich am Ticketschalter in Wimbledon.

Am Abend hat man dann nicht nur glücklich das Flair von Wimbledon aufgesogen, einen Liter Kaffee gegen die Müdigkeit getrunken und den nahezu heiligen Rafa Nadal spielen gesehen - man verlässt die Anlage auch mit der beruhigenden Gewissheit, von den Briten gelernt zu haben. Die Kunst des Anstehens: ruhig, gleichmütig, ganz bei sich. Derart beseelt spaziert man zurück zur Gepäckaufbewahrung - wo eine ewig lange Schlange wartet. Hunderte, ach was, Millionen Menschen. Viel zu wenig Stewards sind da, nichts geht voran. Mies organisiert, unglaublich. Aber gut: Was wissen wir Deutschen schon?

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