Telefonseelsorge:Hör zu, bitte hör zu

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Zwei Millionen Menschen rufen jährlich bei der deutschen Telefonseelsorge an. Ihre Ängste und Nöte haben sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Eine Bestandsaufnahme deutscher Befindlichkeiten.

Anna-Lena Roth

Ruth Belzner sitzt an ihrem Schreibtisch in Würzburg und wartet darauf, dass das Telefon klingelt. Dass Menschen bei ihr anrufen und über ihre Probleme sprechen.

Seit einigen Jahren greifen immer mehr Männer zum Hörer, um mit den Mitarbeitern der Telefonseelsorge zu sprechen. Sie wollen vor allem über ihre Beziehung reden. (Foto: dpa)

Über den Job, den sie verloren haben. Über die Beziehung, die zerbrochen ist. Oder über die Selbstzweifel, die seit Monaten nicht verschwinden. Dann versucht die 51-jährige Psychologin zu helfen: Sie hört zu, fragt nach und verweist manchmal auch an weitere Hilfseinrichtungen. "Für die Anrufer ist es oft die größte Hilfe zu wissen, es ist jemand da", sagt Belzner, die seit 1996 die Telefonseelsorge in Würzburg leitet.

Deutschlandweit wählen jedes Jahr etwa zwei Millionen Menschen die Notrufnummer, die Mitarbeiter sind jederzeit erreichbar, die Kosten übernimmt die Deutsche Telekom. Belzner nennt es "soziales Sponsoring". Zieht man die Scherz- und Schweigeanrufe ab, kommen rund 1,6 Millionen "ernsthafte" Gespräche zusammen. Die größte Altersgruppe sind - mit 40 Prozent - die 30- bis 60-Jährigen. Die Zahl der Männer, die bei der Seelsorge anrufen, ist in den vergangenen Jahren gestiegen, mittlerweile liegt sie bei fast 40 Prozent.

Bei den Gesprächsthemen macht es große Unterschiede, ob Männer oder Frauen zum Hörer greifen. Zwar würden beide am häufigsten über Beziehungsprobleme sprechen, sagt Belzner. Während die männlichen Anrufer dabei jedoch vor allem ihre Partnerin meinten, würden Frauen über ihre Kinder, Eltern und Freunde reden.

Doch egal ob Mann oder Frau: Der Grund für einen Anruf bei der Telefonseelsorge sei immer häufiger eine psychische Erkrankung - und wie diese das Leben der Betroffenen verändere.

Nie zuvor hätten sie und ihre Kollegen so oft mit "zerfallenden Lebenskonzepten" zu tun gehabt, sagt Belzner. Und meint damit Menschen, die ihre Arbeit verloren und keine sozialen Kontakte haben. "Immer mehr Anrufer sehen in den anonymen Ansprechpartnern am Telefon Begleiter und Unterstützer für die Bewältigung ihres Alltags."

Als die Psychologin vor rund 26 Jahren mit ihrer Arbeit bei der Telefonseelsorge begonnen hat, sei das Thema Religion noch deutlich präsenter gewesen. "Heute werden die Fragen von Schuld und Sünde kaum mehr in einen religiösen Kontext gesetzt", sagt Belzner. An seine Stelle sei die Psychologie getreten.

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Die Idee zur Telefonseelsorge entstand in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Ziel des Begründers Chad Varah - ein Anglikanerpater aus London - war es, Menschen vom Suizid abzuhalten. 1956 öffnete dann in Berlin die erste deutsche Stelle, mittlerweile gibt es 105 im ganzen Land. Seit 1997 sind die 7000 ehrenamtlichen und 200 hauptamtlichen Mitarbeiter unter den einheitlichen Rufnummern 0800-111 0 111 und 0800-111 0 222 zu erreichen, Träger der Seelsorge sind die katholische und evangelische Kirche.

Werbeplakat der deutschen Telefonseelsorge: Die ehrenamtlichen Mitarbeiter sind jederzeit erreichbar, die Anrufe sind kostenfrei und können nicht zurückverfolgt werden. (Foto: ddp)

Auch wenn es heute nur noch in knapp einem Prozent aller Gespräche um Suizid geht, bleibt das Thema wichtiger Bestandteil der Arbeit. "Diese Anrufe sind die eindrücklichsten und prägendsten", sagt Belzner. Es sei wichtig, diesen Menschen Alternativen aufzuzeigen, Auswege auszuloten. "Was müsste sich verändern, damit Sie weiterleben wollen?", fragen die Mitarbeiter dann häufig, die Antwort kann ein erster Schritt zur Hilfe sein. Ob der Anrufer sie allerdings in Anspruch nimmt, habe man dann nicht mehr in der Hand, sagt Belzner.

Dennoch: Nichts sei belastender, als die Ungewissheit, was nach dem Auflegen passiert. "Aber als Mitarbeiter muss man lernen, damit umzugehen." Sich in Erinnerung rufen, dass man am Telefon tatsächlich nicht mehr tun kann, als Betroffene in ihrer Verzweiflung ernst zu nehmen.

Umso wichtiger ist es, dass die Mitarbeiter der Telefonseelsorge entsprechend geschult sind. Bevor sie zum ersten Mal selbständig Anrufe entgegennehmen, haben sie eine einjährige Ausbildung hinter sich. Pro Woche umfasst diese etwa drei Stunden. Wie leite ich ein Gespräch? Wie bringe ich Menschen dazu, ihre Gefühle in Worte zu fassen? "Das sind Dinge, die unsere Mitarbeiter unbedingt lernen müssen", sagt Belzner.

Für besonders schwierige Situationen stehen den ehrenamtlichen Mitarbeitern nicht nur die hauptamtlichen Kollegen als Ansprechpartner zur Seite. Auch psychologisch ausgebildete Fachkräfte, sogenannte Supervisoren, sollen dabei helfen, mit den Belastungen der Arbeit zurechtzukommen.

Laut Belzner ist es wichtig, dass alle Mitarbeiter - 80 Prozent von ihnen sind Frauen - über ein "psychosoziales Basiswissen" verfügen. Sie müssten wissen, was eine Depression und was eine Schizophrenie bedeutet. Aber auch: Was ein Langzeitarbeitsloser ist. Als beispielsweise vor sechs Jahren heftig über die Einführung von Hartz IV diskutiert wurde, sei dies auch eine große Sorge der Anrufer gewesen, sagt Belzner. "Dann kann ich mich ja auch gleich umbringen", sei der Tenor gewesen.

Umso erstaunlicher sei es, dass heute nur noch in drei Prozent aller Gespräche wirtschaftliche Fragen thematisiert würden. "Die Menschen resignieren", sagt Belzner. Und denken: "Ich kann's ja doch nicht ändern."

Doch egal, ob es sich um Geld, Beziehungen oder Krankheiten handelt, das Wichtigste ist es, den Anrufern ein Gefühl zu geben: Dass jemand zuhört.

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