Dem Geheimnis auf der Spur:Unheimlicher See

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Der Lake Tahoe an der Grenze zwischen Kalifornien und Nevada ist bis zu 501 Meter tief. In dem Gewässer soll ein Ungeheuer leben. (Foto: Brian Vander Brug/Los Angeles Times/Getty Images)

Die Legende des schottischen Ungeheuers Nessie ist bekannt. Aber es gibt auch ein ähnliches Phänomen in den USA: Tahoe Tessie.

Von Carolin Werthmann

Der Lake Tahoe ist für sein kristallklares Wasser berühmt, doch an der tiefsten Stelle des Sees erschöpft sich selbst die reinste Reinheit, da sieht man nur noch die eigenen Beine im Wasser schweben, alles andere verschwindet in der Dunkelheit. An diesem Punkt ist der Alpinsee an der Grenze zwischen den US-Bundesstaaten Kalifornien und Nevada 501 Meter tief. Das Wasser würde das gesamte New Yorker Empire State Building verschlucken, ohne dass man seine Spitze sähe. Kaum verwunderlich, dass sich Legenden darum ranken, was dort unbemerkt in der Tiefe schlummert. Zum Beispiel ein Seemonster. Eines, das seine Monsterhaftigkeit gleich wieder verliert, wenn man weiß, wie es genannt wird: Tahoe Tessie. Klingt nach einem Pixar-Film, wurde aber doch so ernst genommen, dass nicht nur pseudowissenschaftliche Kryptozoologen nachforschten, sondern auch seriöse Limnologen, Forscher für Süßwasserökologie.

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Der Lake Tahoe zieht ganzjährig Touristen an, im Sommer zum Campen und Baden, im Winter zum Skifahren, Menschen findet man hier in Massen. Manche von ihnen glauben, an der Oberfläche des Gewässers etwas Sonderbares gesichtet zu haben. Jedenfalls etwas anderes als einen der vielen amerikanischen Seesaiblinge, die hier rumschwimmen. Einer dieser Menschen, die an die Sonderbarkeit glaubten, ist Mickey Daniels. Die Los Angeles Times hat ihn 2005 getroffen und mit ihm über seine Beobachtung gesprochen. Der Fischer fuhr seit 1959 über den Lake Tahoe und kam gern mal mit 30-Pfund-Forellen zurück an Land. Doch war er sich sicher, dass da noch etwas Größeres im See verborgen liegen musste. An einem Morgen schipperte er mit seinem Boot Big Mack über das Wasser, als die stille Oberfläche von einer Welle mit einer Spitze gleich einem V durchbrochen wurde. "Es" kam wie aus dem Nichts, sagte er. Ebenso schnell verschwand es wieder.

Ein Mann sah ein "braunes, buckliges Biest"

Er war nicht der Einzige, dem Sonderliches auffiel. In George M. Eberharts Enzyklopädie "Mysterious Creatures: A Guide to Cryptozoology" finden sich weitere Augenzeugenberichte, alle aus den Achtzigerjahren. Einer davon stammt von einer Wanderin, die gegenüber dem San Francisco Chronicle berichtete, sie hätte auf dem See etwas entdeckt, das "so groß wie ein Ruderboot" war, "mit kleinen Schaumkronen, die dort auftraten, wo das Maul sein müsste. Es tauchte auf wie ein Wal, der sich durch das Wasser schiebt."

In den Achtzigerjahren erschien auch Stephen Kings Roman "Es", eine 1000 Seiten starke Horrorgeschichte über einen Grusel-Clown, der in der Kanalisation lebt und Urängste der Menschen reflektiert, die im Alltag verborgen bleiben. Die Erzählungen der Menschen von einem "Es" im See erinnern daran. Ein eiskalter, abgrundtiefer See wie der Lake Tahoe, gelegen auf einer Höhe von rund 1900 Metern über dem Meeresspiegel, eingebettet in das Sierra-Nevada-Gebirge mit einer millionenalten Entstehungsgeschichte, ist die perfekte Grundlage für die Projektion des Unheimlichen.

Mitte der Achtziger drehte auch der ehemalige CEO eines lokalen TV-Senders, Mike Conway, eine Werbung bei Zephyr Cove, auf der Nevada-Seite des Lake Tahoe. Kinder fläzten gerade auf einem Anliegersteg, als ein Boot vor ihren Augen von einer Heckwelle erschüttert wurde, woher auch immer sie kommen mochte. In diesem Moment sah Mike Conway ein "braunes, buckeliges Biest", so erzählte er es der LA Times, und die Kinder auf dem Steg sollen gerufen haben: Das ist Tessie! Conway habe die Dreharbeiten unterbrochen und sein Team dazu angehalten, die Kamera darauf zu richten. Filmaufnahmen von jenem Tag existieren jedoch keine. Generell gibt es bei Tessie nur Zeugenberichte, kein Beweismaterial. Es existieren einige wenige, kaum überzeugende Fotos im Netz, die Schatten oder Wölbungen auf der Oberfläche des Sees zeigen. Auch ohne künstliche Intelligenz lassen sich solche Bilder einfach erstellen, das beste Beispiel dafür ist die Fälschung, die bereits 1934 von dem Loch-Ness-Monster Nessie kursierte, dem berühmten vermeintlichen Seemonster aus Schottland.

"Die Leute trauten sich nicht mehr ins Wasser"

Nessie ist wie der Muttermythos von Tahoe Tessie. Nicht nur ihre Namen, auch ihre Geschichten sind identisch. Menschen erspähen eine Unheimlichkeit im Wasser, Medien beißen an, berichten, Touristen pilgern sensationslüstern an den Ort, das Marketing produziert Tessie-Plüschtiere, Tessie-Tassen und Tessie-T-Shirts, wissend, dass Eltern dem Betteln ihrer Kinder nicht werden widerstehen können. Ein Kinderbuch gibt es ebenfalls, von Bob McCormick, auch ihn hat die LA Times getroffen. Er sagt, die Gerüchte um ein Monster im See hätten sich damals so hochgeschaukelt, dass er sich wie in Steven Spielbergs Film "Der Weiße Hai" fühlte. "Die Leute trauten sich nicht mehr ins Wasser." Also verpackte er den Mythos in kinderfreundliche Illustrationen, mit einem hellgrünen Drachen-Dinosaurier-Zwischenwesen auf dem Buchcover, das wohl Tessie sein soll, aber eher an Peter Maffays Tabaluga erinnert.

Man kann Tahoe Tessie belächeln. Man kann sich aber auch noch mal ernsthaft damit befassen, wie es Charles R. Goldman von der University of California, Davis, getan hat, um alle Restzweifel aus dem Weg zu räumen. Goldman ist Limnologe, inzwischen 92 Jahre alt. Schon in den Sechzigerjahren gründete er die UC-Davis-Tahoe-Forschungsgruppe, später prägte er den Begriff der "Usos": unidentifizierte Schwimmobjekte, von denen sich eine Menge in den Weltgewässern tummeln. Tessie gehört nicht dazu. Bei seinem Tauchgang in die Tiefe des Lake Tahoe fand Charles R. Goldman nicht den geringsten Anhaltspunkt auf ein unidentifizierbares Wasserwesen. Er vermutet, bei Tessie könnte es sich um eine Fischart handeln, die sich unter die Forellen und Makrelen gemogelt hat, als diese im Laufe der Jahre gezielt oder weniger gezielt in den Lake Tahoe eingesetzt wurden. Am Ende ist das Seemonster wohl ein harmloser Stör, und das Gruseligste sind an diesem Ort die Menschenmassen, die ihren Müll in den Buchten liegen lassen.

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