Tagebuch aus dem Ersten Weltkrieg:Flucht aus Sibirien

Drei Jahre verbringt der Soldat Friedrich Wentzler in russischer Gefangenschaft. Er erlebt Hunger, Fronarbeit, aber auch Menschlichkeit. Einblicke, wie es Soldaten erging.

Von Kay Lutze

Tagebuch aus dem Ersten Weltkrieg: Auszug aus dem Tagebuch.

Auszug aus dem Tagebuch.

(Foto: privat)

Friedrich Wentzler, der Großvater des Autors, zog 1914 als sogenannter Einjähriger wie so viele andere junge Männer für Kaiser und Vaterland in den Krieg. "Einjährige" waren Wehrdienstpflichtige, die bei freiwilliger Meldung nur ein Jahr aktiv dienen mussten. Nach kurzem Einsatz an der Westfront folgte der Kriegsschauplatz im Osten gegen das Russische Reich. Im Grenzgebiet zwischen dem heutigen Litauen und Weißrussland kommt es am 11. Mai 1915 zum Kampf zwischen Kosakeneinheiten und dem Dragonerregiment "Freiherr von Manteuffel/ Rheinisches Nr.5". Der Dragoner Wentzler gerät in russische Kriegsgefangenschaft. In den folgenden drei Jahren liegen Tausende von Kilometern Wegstrecke durch den europäischen Teil Russlands, Sibiriens, bis zur Wüste Gobi vor ihm. Eine Zeit der Entbehrungen, des Hungers und der Kälte. Sein Tagebuch erlaubt den Einblick in das Schicksal der Gefangenen während des Ersten Weltkriegs: Aus seinen Aufzeichnungen:

Herbst 1915

"Der Zug, der uns nach Ischewsk bringt, ist mit Holz und Kohle beladen. Auf den offenen Waggons, oben auf der Kohle sitzend, fahren wir die etwa 25 kl. lange Strecke bei einer Hundekälte und einem furchtbaren Schneesturm. Noch nie habe ich so gefroren wie auf dieser Fahrt. Durch die zerrissenen Stiefel pfeift ein eisiger Wind; die Ohren habe ich mit dem Handtuch umwickelt. Alles Umwickeln nützt jedoch nichts, überall dringt der Wind hindurch. Gegen Mittag kommen wir in Ischewsk an; endloses Warten auf der Straße; niemand weiß, wohin wir sollen. Schließlich werden wir in die dortige überfüllte Erdbaracke gesteckt. Zu essen hat es den ganzen Tag über nichts gegeben. Abends erhalten wir von den dortigen Österreichern ein Stückchen Brot.

Auf den Pritschenenden sitzend, versuchen wir, nachts ein bißchen zu schlafen; ein anderer Platz ist nicht da. Am nächsten Tage legen wir über die Balken an der Decke ein paar Bretter und bringen hier die Nächte zu. Eine zeitlang geht das gut, eines schönen Tages taut es jedoch, nachts dringt das Schneewasser durch und wir müssen ganz durchnäßt unsere Lagerstätte verlassen. In der Baracke watet man nur noch in Lehm. Die österreichische Baracke nebenan stürzt nachts ein."

Friedrich Wentzler und seine Kameraden sind zu Arbeitseinsätzen im Uralgebiet eingesetzt, auch zu schwerer Arbeit an einer Kleinbahn in der Nähe von Perm.

Neujahr 1916

"Um ein Haar hätte uns die Karaschobahn wieder erwischt. Wir gehen zum Mittagessen. Oben angelangt, werden die Tore hinter uns geschlossen, wir selbst in die Halle buxiert. Der Oberst ist schon da. Auch einen Bekannten treffen wir, einen Feldwebel von der Karaschobahn; ein Erzgauner. Na, das kann ja gut werden. Der Feldwebel will 100 Mann für die Bahn haben. Wir haben die größte Aussicht, wieder dorthin zu kommen. Auch hier ist man also nicht sicher. Die schreckliche Musterung beginnt. Gottseidank werden wir auf Grund unserer Beine für arbeitsunfähig erklärt. Wäre aber Mangel an Arbeitern gewesen, wären wir unweigerlich für gesund erklärt. Etwa 20 Mann von den mit uns als krank gekommenen Leuten müssen jetzt wieder mit zum Robotten an die Karaschobahn. Die armen Kerle; von Morgens früh bis Abends spät fest arbeiten. Keine Bezahlung u. schlechtes Essen und dabei die grimmige Kälte. An Postverbindung mit zu Haus ist natürlich auch nicht zu denken."

Die Karaschobahn lag in der Nähe von Perm. Wentzler erwähnt auch Sabotageakte: "Ich war bei einer Gruppe, die unter die gelegten Schwellen Schotter zu stapften hatte. Wurden wir beaufsichtigt, so machten wir diese Arbeit auch wunderschön, sind wir jedoch unbeaufsichtigt, so wurde unter die Schwellen nicht nur kein Schotter gestampft, sondern die Schwellen wurden so hohl hingelegt und nur von aussen bekleidet, dass sie bei grossem Druck tief einsinken mussten."

Die Sabotageakte nötigten die Russen zu andauernden Ausbesserungsarbeiten. Trotz der harten Lebensbedingungen, gab es auch unerwartete Hilfe aus der Bevölkerung.

Tagebuch aus dem Ersten Weltkrieg: Vorgedruckte Postkarte für Gefangene in Russland.

Vorgedruckte Postkarte für Gefangene in Russland.

(Foto: privat)

8. April 1916

"Als wir auf der Dorfstraße wieder zurückgehen, hat sich das halbe Dorf dort versammelt. Ein alter weißhaariger Tatar kommt auf uns zu u. bittet uns hereinzukommen und bei ihm Tee zu trinken. Nach einigem Zögern gehen wir dann mit. Die Dorfbewohner hinter uns her. Drinnen ist der Tisch schon gedeckt. Eier, Butter, Brot und Tee gibt es. Wir können uns nach Herzenslust satt essen. Immer und immer werden wir zum Essen genötigt. Ins Quartier zurückgekehrt werden Kartoffeln gekocht und Gulasch gebraten. Seit langer Zeit mal wieder ein Schlemmeressen."

27. September 1916

"Großes Reinemachen wird befohlen. Eine russische Kommission soll kommen. 2 Tage lang müssen wir schruppen und Fenster putzen. Sogar einen Waschapparat bekommen wir, sodaß wir uns jetzt auch mal waschen können. Russische Kommissionen sind uns nichts Neues. Sie bringen selten Gutes. Diesmal werden wir jedoch angenehm enttäuscht. Die angeblich russische Kommission besteht aus einer deutschen Schwester und einem dänischen Offizier. Schon auf dem Flur hören wir sie sprechen. Deutsche Laute aus weiblichem Munde sind uns ganz etwas Ungewohntes. Sie geht zunächst in die Zimmer der Österreicher. Inzwischen kommt unser Kommandant, ein alter Oberst, zu uns und bittet uns inständig, nichts von der Arbeitsverschickung der Einjährigen zu erwähnen und uns auch nicht über ihn zu beklagen. Er verspricht uns, von nun an keinen Einjährigen mehr auf Arbeit zu schicken, wir sollten es jetzt bei ihm gut haben und noch andere schöne Sachen. Zu glauben ist seinen Versprechungen ja nicht. Wir sagen deshalb, wir werden sehen.

Tagebuch aus dem Ersten Weltkrieg: Friedrich Wentzler 1914 zu Kriegsbeginn.

Friedrich Wentzler 1914 zu Kriegsbeginn.

(Foto: privat)

Ganz zuletzt kommt die Schwester zu uns. Unser Zimmer hatten wir durch Auflegen einer Decke noch erheblich verschönert. Nach einer kleinen Begrüßung werden wir nach Beschwerden und sonstigen Mängeln befragt. Natürlich wird gleich die Arbeitsverschickung der Einjährigen erwähnt, auch daß man uns von hier fort zu Arbeit verschleppen will. Alles wird erzählt, alle Zustände im Lager vorgebracht. Der Oberst steht dabei und muß alles mit anhören. Durch sein Augenzwinkern lassen wir uns gar nicht beeinflussen. Ich glaube, in diesem Augenblick schwört er uns finstere Rache. Auch ein Begleiter der Schwester versucht, uns am Erzählen zu hindern, wird aber von der Schwester bös angefahren. Bitte, Herr St., jetzt spreche ich mit den Leuten, nachher haben sie das Wort. Auf alle unsere Beschwerden verspricht der Oberst Besserung.

Wie ernst es ihm damit gemeint war, sehen wir etwas später. Der Waschapparat, der nur für den Besuch der Schwester hingestellt war, wird wieder abgeholt. Immerhin erreicht die Schwester allerhand. Die Einjährigen sollen zurückberufen werden, wir selbst in ein sibirisches Einjährigenlager kommen, die Zustände auf den Arbeitsstellen untersucht werden. Jeder von uns erhält 10 Rbl.. Wer Bankkarten hat, bekommt sie ausbezahlt, sodaß ich nochmal 50 Rbl. bekomme. Mit vielen Wünschen für die Zukunft verläßt uns die Schwester."

Bei der Rote-Kreuz-Schwester handelt es sich um Anne-Marie Wenzel, welche die deutschen Gefangenen in Solikamsk besuchte. Nach ihrer Rückkehr aus Russland berichtete die aus Kassel stammende Schwester den Eltern von Friedrich Wentzler im nahe gelegenen Hannoversch Münden von den Zuständen in den russischen Lagern. Friedrich Wentzler hat in einem ebenfalls erhaltenen kleinen Heft Geldanweisungen festgehalten, die er unter anderem auch von seinem Vater Hermann Wentzler erhielt.

Oktober 1916

In diesem Jahr geht es für die Einjährigen in ein Lager nach Sibirien. Das Lager Troitzkossawsk liegt an der mongolischen Grenze am Rande der Wüste Gobi. Der Aufenthalt im Lager dauert ein Dreivierteljahr. Dann bekommt Friedrich Wentzler Arbeit als Techniker in einer Lederfabrik an der mongolischen Grenze. Das Unternehmen wird von Rudolf Iwanowitsch Ömann, einem Deutsch-Schweizer, geleitet. Neben der Arbeit in der Fabrik wird Wentzler von Rudolf Ömann mit zur Fuchs- und Wolfsjagd eingeladen. Friedrich Wentzler stammt selber aus einer Familie, die in Hannoversch Münden seit 1853 eine solche Lederfabrik betrieb.

Februar 1918

In Russland tobt die Revolution, Friedrich Wenzler denkt an Flucht:

"Von der russischen Revolution haben wir nicht viel gemerkt. Die Drahtzieher sitzen im europ. Russland. Nach hier dringt alles nur langsam durch, auch in den Städten entlang der Bahn wirkt sich die Revolution nur langsam aus. Die Offiziere haben ihre Soldaten noch fest in der Hand.

Trotzdem ich es in der Fabrik gut habe, hält es mich jetzt hier nicht mehr länger. Ich will versuchen, ob es nicht möglich ist, nach Hause zu entkommen. Mit dem Direktor hatte ich schon oft über Fluchtpläne gesprochen, er gibt mir Geld mit, verschafft mir einen Pass und Empfehlungsbriefe nach Moskau und St. Petersburg."

Schließlich gelingt Friedrich Wentzler Ende Februar, Anfang März 1918 mit einem Kameraden, als Russen getarnt, die Flucht:

"Als Russe mit einem dicken Pelz fahre ich los. Mittlerweile habe ich einigermaßen Russisch sprechen gelernt, sodaß ich mir helfen kann. Mein erstes Ziel ist ein Lager an der sib. Strecke, in dem ein Bekannter von mir ist, mit dem ich schon 100 x Flucht und Fluchtpläne besprochen hatte. Es gelingt mir, nachts in das Lager zu kommen, und zu zweit treten wir die grosse Reise an."

Nach vielen Wochen erreichen sie, teils mit der Eisenbahn, die Stadt Wjatka (heute Kirow) im europäischen Teil Russlands. Dort hatte bereits ein Sowjet der Arbeiter- und Soldatenvertreter die Macht übernommen. Die neue kommunistische Regierung hat im März in Brest-Litwosk einen demütigenden Frieden mit dem Deutschen Reich schließen müssen.

Kriegsgefangene

Mindestens 6,6 Millionen Soldaten, wahrscheinlich sogar acht Millionen gerieten während des Ersten Weltkriegs in Gefangenschaft des Gegners, unter ihnen der Deutsche Friedrich Wentzler, dessen Reise durch Sibirien hier anhand seines Tagebuchs beschrieben wird. Sein Bericht ist in zweierlei Hinsicht typisch für das Los der Gefangenen von 1914 bis 1918.

Einerseits widersprach ihre Behandlung auf allen Seiten oftmals der Haager Landkriegsordnung, die erst 1907 erlassen worden war und den Versuch darstellte, die Armeen zu einer humanen Behandlung ihrer Gefangenen zu verpflichten. So sollten diese mit Menschlichkeit behandelt werden und nicht schlechter ernährt und untergebracht werden als die eigenen Soldaten. Letzteres erwies sich vielfach als Illusion, vor allem wegen der Praxis, die Gefangenen zur Fronarbeit für den Krieg zu zwingen. Sie mussten in der Landwirtschaft, im Bergbau oder in Fabriken die Männer ersetzen, die an der Front standen. Auch Wentzler berichtet vom gefürchteten Einsatz beim Bau einer Eisenbahnlinie.

Eine wichtige Rolle spielte auf allen Seiten das Internationale Rote Kreuz, das die Lagerbedingungen untersuchte, den Briefkontakt in die Heimat organisierte und dafür sorgte, dass Versorgungspakete dort ankamen. Welche Konflikte mit den Lagerleitungen dadurch entstehen konnten, schildert das Tagebuch ausführlich. Das Rote Kreuz erhielt für seinen Einsatz 1917, noch während des Krieges, den Friedensnobelpreis. Mangelnde Versorgung war dennoch oft ein Problem und verursachte Krankheiten und Todesfälle. In Deutschland lag die Sterberate bei etwa fünf Prozent, in Russland teilweise bei fast 25 Prozent, auch wegen Fleckfieberepidemien unter den geschwächten Männern.

Andererseits unterschied sich das Los der Gefangenen bis 1918 bei allen Entbehrungen grundlegend von dem, was im ideologisch aufgeheizten Zweiten Weltkrieg 1939 bis 1945 jenen drohte, die in Feindeshand fielen. Dies gilt vor allem für die Ostfront. Im Ersten Weltkrieg war die Überlebenschance in Gefangenschaft größer als an der Front. Von den 5,7 Millionen Rotarmisten aber, die von 1941 an in deutsche Gefangenschaft gerieten, starben etwa 3,3 Millionen; sie verhungern und umkommen zu lassen war Absicht und Teil des deutschen Vernichtungskrieges im Osten. Die Rote Armee behandelte die deutschen Gefangenen ihrerseits sehr hart; erzwungene Arbeit in sibirischen Lagern, Verwahrlosung und Vernachlässigung führten dazu, dass von den 3,3 Millionen deutschen Kriegsgefangenen nur zwei Millionen aus sowjetischem Gewahrsam heimkehrten. Die letzten wurden erst 1956 entlassen. Joachim Käppner

1. Juni 1918

Für Fritz Wentzler ist der Frieden ein Glück. Er erhält am 1. Juni 1918 die Erlaubnis, mit der Bahn 3. Klasse von Wjatka nach Petrograd zu fahren. In Wjatka bekam er von der deutschen Kommission für Kriegsgefangene einen Personalausweis, der ihn unter den Schutz des Deutschen Kaiserreiches stellte.

"Nach dreimonatlicher Reise gelangen wir nach Petersburg und von da aus mit einem Lazarettzug, in dem Invalide ausgetauscht werden, über die Grenze, sodaß ich im Frühjahr wieder hier bin."

Er kann sich in den Lazarettzug Richtung Deutschland schmuggeln. Später absolviert er im sächsischen Freiberg eine Gerberlehre und steigt dann in die väterliche Firma ein. Viele andere Gefangene kehren erst 1920 zurück. Friedrich Wentzler lernte die Schrecken des Krieges und der Gefangenschaft am eigenen Leib kennen. Beeindruckt war er von den unendlichen Weiten Russlands, gegen die ein Krieg nicht zu gewinnen ist. Als er 1941 die Nachricht vom deutschen Überfall auf die Sowjetunion hörte, sagte er zu seiner Frau: "Jetzt ist alles aus".

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