Tag der Pflege:Das Wegsperren eines Problems

Lesezeit: 4 min

Die Gesellschaft verdrängt die Last des Alterns - und verschiebt das Problem auf anonyme Pflegestationen. Ein Lob den Frauen, die sich dort aufreiben.

Birgit Lutz-Temsch

In irgendeinem Geschichtenbuch gibt es eine Erzählung von einem kleinen Jungen, dessen Großvater schon alt ist. Der Großvater kann nicht mehr richtig essen, er zittert und kleckert. Deshalb darf er nicht mehr mit am Tisch sitzen, sondern muss auf einer Bank hinter dem Ofen essen, aus einem Holznapf. Eines Tages schnitzt der Junge einen Napf. Die Mutter fragt den Jungen, wofür der Napf denn sei. Und da antwortet der Junge: Für dich, wenn du alt bist. Von dem Tag an saß der Großvater wieder mit am Tisch.

Pflege - eine große Aufgabe. (Foto: Foto: iStock)

Es ist eine einfache Geschichte, und dennoch sagt sie viel aus über das Alter, über Familien, über Pflege. Alle Menschen werden irgendwann alt, wenn sie nicht vorher durch Unfall oder Krankheit sterben. Alte Menschen können unappetitlich sein, wenn sie ihren Körper nicht mehr beherrschen. Sie kleckern, sie schmatzen, sie machen in die Hose.

Deshalb schieben wir das Alter gerne einfach weg von uns, dahin, wo wir es nicht mehr sehen müssen, auf die Ofenbank. Aber die Menschen auf den Fotos zum Pflegenotstand, zittrige Alte mit Schnabeltassen, sind keine Aliens, und sie waren nicht schon immer so alt. Auch sie waren irgendwann jung, schön, lebensfroh, voll Tatendrang, haben geliebt, gehasst, Familien gegründet, die Welt bereist. Es sind Menschen, immer noch.

Das Wegschieben der Alten und des Alters funktioniert nur so lange, bis ein Angehöriger zu einem Pflegefall wird, weil er nicht das Glück hat, nach einem erfüllten Leben eines Morgens einfach nicht mehr aufzuwachen oder nach dem Seniorentanztee eines Nachmittags mausetot in die Krokusse zu fallen.

Wenn das also passiert, wenn ein Angehöriger langsam aber sicher nicht mehr alleine leben kann, Hilfe braucht - dann geht es plötzlich um Hunderte Dinge. Wer sich nicht viel aus dem Angehörigen macht, kann ihn kurzerhand in ein Heim geben. Sich nicht weiter kümmern, außer regelmäßig die Zuzahlung zum Pflegegeld zu leisten. Das geht. Das machen aber die wenigsten.

Und dann wird es schwierig. Wenn man versucht, den Menschen selbst zu Hause zu pflegen. Denn in der Pflege eines alten, demenzkranken Angehörigen gibt es nie wieder Fortschritte, es gibt wenn, dann nur sehr kurze Lichtblicke, ein kurzes Aufflackern der alten Persönlichkeit, das das sonstige Dahindämmern aber wiederum nur noch trostloser, deprimierender und gemeiner erscheinen lässt. Denn ja, es ist gemein, wenn der Körper noch da ist, während der Geist sich verabschiedet.

Wer den Angehörigen liebt, kann nun sein eigenes Leben für dessen Pflege opfern. Immer auf Abruf, immer präsent, das ist Pflege. Nicht da sein ist mit schlechtem Gewissen verbunden und dem Gefühl, den Angehörigen im Stich zu lassen. Dem bohrenden Selbstvorwurf, undankbar gegenüber dem Vater, der Mutter zu sein, der oder die im Leben so viel getan hat für einen.

Es sind vor allem Frauen, die sich den Herausforderungen der Pflege stellen. Drei von vier pflegebedürftigen Angehörigen werden in Deutschland von Frauen versorgt. Für diese Frauen bedeutet das oft: Sie befinden sich sowieso schon in dem Spagat zwischen Kindern und Beruf. Und nun setzt sich noch die Last der Pflege auf ihre Schultern.

Das Schlimme aber: Wer diese Last nicht trägt, die reale Versorgung - verspürt ebenso große Bürde, nämlich die des schlechten Gewissens, der Undankbarkeit, des Egoismus. Also wird der Bedürftige gepflegt, solange es irgendwie geht. Nicht wenige Frauen geben ihre Berufe auf, weil sie zerrieben werden zwischen ihren vielfältigen Aufgaben.

Aber auch dann wird die Belastung nicht merklich weniger. Denn die Hauptlast besteht darin, das Siechtum eines geliebten Menschen auszuhalten. Und sich selbst in diesem Gefängnis aus Liebe, Dankbarkeit und Pflichtgefühl wiederzufinden, das jede potentielle Lebensfreude unter schlechtem Gewissen erstickt.

Und irgendwann kommt dann oft doch das Heim, weil es nicht anders geht, weil die Kraft auch noch für andere, und für sich selbst reichen muss. Doch das Heim ist kein Heilmittel, denn das schlechte Gewissen, das Gefühl, den Angehörigen im Stich zu lassen - es wird nie aufhören.

Es gibt nun eine Generation Frauen in Deutschland, die ihr Leben lang nichts anderes gemacht haben, als sich um andere Menschen zu kümmern. Solche Frauen gibt es immer weniger. Das nimmt nicht Wunder, denn ihr sozialer Einsatz ist den Frauen nie gedankt worden. Als Quittung für lebenslanges Hegen und Pflegen standen sie am Ende schlecht versorgt da. Weil unser Sozialsystem so aufgebaut ist, dass sich ein jeder um sich selbst kümmern und Punkte für sich sammeln muss. Es ist egal, warum jemand nicht arbeitet, ob er nun am Strand von Honolulu liegt, ein Kind auch nach dem Wickelalter noch weiter erzieht oder einen Angehörigen pflegt - keine Punkte, keine Versorgung.

Hinzu kommt: Der Familienverband ist heute weitaus lockerer. Söhne und Töchter gehen in andere Städte, Söhne und Töchter studieren, ergreifen Berufe, in denen viel Mobilität und Flexibilität von ihnen verlangt wird. Das Modell der Familie, die in einem Ort, ja einem Haus wohnt - es gehört immer mehr der Vergangenheit an. Die Frage der Pflege wird damit nicht einfacher.

Es wird Zeit, dass man den Pflegeberufen und pflegenden Angehörigen endlich den Wert beimisst, der ihrer Arbeit und ihrem Beitrag zum Funktionieren unserer Gesellschaft entspricht. Arbeit, die von allen als wertlos erachtet wird, verrichtet niemand gerne. Unser Pflegesystem steht vor der Implosion - nicht nur, weil die Alten immer mehr und die Jungen sowieso immer weniger werden. Auch weil die Frauen das Spiel nicht mehr mitspielen.

Die letzte Aussage der Geschichte von dem kleinen Jungen mit dem Holznapf ist vielleicht die wichtigste, und diejenige, die am meisten bewirkt, so wie sie den Opa wieder hinter dem Ofen vorgeholt hat: Niemand will im Alter selbst schlecht behandelt werden.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: