Tabuthema Inzest:Verbotene Liebe

Liebe

Eine Liebe, die es nicht geben dürfte (Symbolbild)

(Foto: emanoo / photocase.de)

Karin Lehner und Christoph Wilken sind ein Paar, das es nicht geben dürfte: Sie haben ein Kind, obwohl sie Halbgeschwister sind. Die Geschichte einer heimlichen Beziehung.

Von Christina Berndt

Kann sich etwas, das nicht sein darf, so gut anfühlen? Als sie die erste Nacht zusammen verbrachten - die erste, in der sie nicht wie Bruder und Schwester nebeneinanderlagen, sondern wie ein Liebespaar -, da fragten sie sich das immer wieder. Intuitiv wussten sie, dass sie ein Tabu gebrochen hatten. Dass ihr Verhalten bei vielen Menschen in ihrem Umfeld auf Abneigung stoßen, ja sogar Abscheu auslösen würde. Und dass sie es besser nicht noch einmal wiederholten.

Sie machten es trotzdem. Weil es nicht anders ging, wie sie erzählen. Weil die Anziehung zwischen ihnen so groß war und immer größer wurde. So wurden sie ein Paar. Ein inzestuöses ("unkeusches") Paar, weil sie doch Halbgeschwister sind, die dieselbe Mutter haben. Auch wenn diese Mutter ihnen beiden nie eine Mutter war - und sie sich erst kurz vor ihrem Tabubruch zum ersten Mal begegnet waren.

Karin Lehner und Christoph Wilken sind ein besonders hübsches junges Paar in den Zwanzigern. Stolz zeigen sie ihre schicke Dachwohnung, die sie in einem kleinen Ort in Deutschland selbst ausgebaut haben. Inzest? Blutschande? Es sind Begriffe, die in dieses Idyll nicht zu passen scheinen. Ihre Wohnung ist jetzt ein "Tatort", aktenkundlich vermerkt von zwei Polizisten, die sich dafür interessierten, ob Karin Lehner und Christoph Wilken Dinge miteinander tun, die die Gesellschaft Bruder und Schwester nicht zubilligt.

"Ich habe gedacht, das kannst du jetzt nicht machen"

Geschlechtsverkehr unter Geschwistern ist strafbar. Er kann nach dem "Inzest-Paragrafen" 173 im Strafgesetzbuch sogar zwei Jahre im Gefängnis zur Folge haben, auch wenn es sich um einvernehmlichen Sex unter Erwachsenen handelt. Davon hatten Karin Lehner und Christoph Wilken keine Ahnung, als die Leidenschaft sie in jener Winternacht vor knapp drei Jahren übermannte. Sie hatten nur ein ungutes Gefühl. "Einen Moment habe ich noch gezögert, ob das 'ne gute Idee ist", sagt sie über ihre erste Liebesnacht. "Ich hab gedacht, das kannst du jetzt nicht machen", sagt er.

Den inneren Widerstand schoben sie beiseite. Und den äußeren nahmen sie in Kauf: dass Freunde auf Distanz gingen, weil "Ekel und Abscheu zu fest in den Köpfen verankert sind", wie Karin Lehner sagt. Eines aber ahnten die beiden nicht, die ihre echten Namen nicht in der Zeitung lesen wollen: In welche Schwierigkeiten ihre Liebe sie noch bringen würde, weil die Strafbarkeit ihrer Zuneigung sie zum Opfer für Denunzianten macht. Das erfuhren sie erst einige Monate später, als zwei Polizisten vor ihrer Tür standen, um sie zu verhören.

Sex unter nahen Verwandten gehört immer noch zu den großen Tabus. In einer Gesellschaft, in der Männer mit Männern schlafen dürfen und Frauen mit Frauen, in der fast jede Art sexueller Erfüllung geduldet wird, trifft selbst einvernehmlicher Inzest unter Erwachsenen weiter auf Aversionen. Dass er zumindest nicht mehr strafbar sein möge, dafür hat sich jüngst die Mehrheit des Deutschen Ethikrats ausgesprochen, auch um betroffenen Paaren ein Leben ohne Angst zu ermöglichen. "Ich habe die Hoffnung, dass so etwas Wertvolles wie die aufrichtige Liebe zwischen zwei Menschen, die keinen anderen Menschen tief greifend schädigt, in unserer Gesellschaft lebbar sein möge", sagte die Ethikratsvorsitzende Christiane Woopen.

"Ich nenne das pervers"

Doch die Kritik war massiv: Der Vorschlag des Ethikrats sei "skandalös" und "irritierend", hieß es. Ein CSU-Politiker verstieg sich sogar zur der Aussage, er widerspreche dem "gesunden Volksempfinden". Im Internet protestierte das Volk noch auf ganz anderem Niveau: "Wie krank seit ihr eigentlich?????", hieß es da. "Mir wird übel" und "Ich nenne das pervers!!!"

Karin Lehner und Christoph Wilken kennen solche Äußerungen längst. Verletzt wirken sie immer noch. Von dem Votum des Ethikrats hatten sie sich ähnlich wie dessen Vorsitzende eine offene Diskussion erhofft. Wenig davon ist wahr geworden.

Ist ihre Liebe vielleicht doch der Fehler ihres Lebens?

"Dinken!", kräht ihr kleines Mädchen dazwischen. Eine Antwort muss erst einmal warten. "Was möchtest du?", fragt die Mutter. Der Vater hat sofort verstanden: "Ja, Mia, du kannst etwas zu trinken haben." Er nimmt die Kleine zärtlich auf den Schoß. Das Kind unserer Liebe, sagt die Mutter glücklich. Einen Fehler kann sie darin wirklich nicht sehen. Ein Kind der Schande, würden andere sagen. Und für die Polizei ist Mia der Beweis einer Straftat.

Das erste Treffen

Es war im Frühling 2011, als Karin Lehner ihren Halbbruder zum ersten Mal traf. Ihre gemeinsame Mutter, eine alkoholkranke Frau, wünschte sich das Treffen. Viel Kontakt hatte sie zu keinem ihrer Kinder gehabt. Während Christoph schon von seinem dritten Lebensjahr an bei seinen Großeltern väterlicherseits aufwuchs, kam Karin in ein Heim. "Der hat ja ein schönes Leben gehabt", schoss es ihr durch den Kopf, als sie ihren Halbbruder zum ersten Mal sah. "Der ist richtig verwöhnt worden", erzählt sie lächelnd.

Und sonst war da am Anfang nichts? "Oh, das ist aber ein hübscher Kerl, das hab ich mir schon gedacht", sagt sie strahlend. "Und mir fiel auf, dass ich für Christoph nicht wie für einen Bruder empfinde. Wie denn auch? Wir waren uns ja vollkommen fremd." Auf andere Ideen kamen die beiden zunächst nicht. Sie lebten ohnehin in festen Beziehungen.

Die Vertrautheit wuchs. Lange Spaziergänge, intensive Gespräche. Sie hatten sich immer etwas zu sagen. Manchmal, wenn es wieder spät geworden war, übernachteten sie auch nebeneinander. "Eine Weile unterdrückten wir es, dass wir drauf und dran waren, uns zu verlieben", erzählt Karin Lehner. Bis nach einigen Monaten aus Bruder und Schwester plötzlich ein Liebespaar wurde.

"Wenn mich früher mal jemand gefragt hätte, ob ich mit meiner Schwester eine Liebesbeziehung eingehen würde, hätte ich natürlich auch gesagt: Bist du nicht ganz sauber?", sagt Christoph Wilken. Aber sie fühlten sich ja gar nicht wie Geschwister. "Wahrscheinlich hätten wir uns nicht verliebt, wenn wir zusammen aufgewachsen wären", sagt er.

Das Prinzip der "genetic sexual attraction"

Das sehen Wissenschaftler ähnlich. Nach einer weithin akzeptierten Theorie entwickeln Menschen eine Abneigung dagegen, mit sehr vertrauten Personen im Bett zu landen. Forschungen bestätigen jedenfalls den finnischen Anthropologen Edvard Westermarck. Der hatte schon vor mehr als hundert Jahren postuliert, "dass ein angeborener Widerwille gegen den geschlechtlichen Verkehr zwischen Personen existiert, die von früher Jugend auf eng beisammen leben". Das scheint aber weniger an der Blutsverwandtschaft zu liegen als vielmehr an der Vertrautheit. Ein Beleg dafür sind die Simpua-Ehen in Taiwan. Dort wachsen einander versprochene Kleinkinder gemeinsam auf. Ihre Ehen bleiben häufig kinderlos. Als Liebestöter haben sich auch die Kibbuzim in Israel erwiesen. Kinder, die dort von Geburt an zusammenleben, heiraten einander fast nie, wie israelische Anthropologen herausfanden.

Wenn Blutsverwandte sich dagegen erst als Erwachsene kennenlernen, scheint die Anziehung zwischen ihnen umso größer zu sein: Eine Studie aus Illinois ergab im Jahr 2010, dass Menschen genetisch ähnliche Personen sexuell besonders attraktiv finden, wenn sie nichts über die Verwandtschaft zu ihnen wissen. Das Prinzip der "genetic sexual attraction" bestätigt die Erfahrungen vieler Inzestpaare. "Betroffene erzählen von einer Seelenverwandtschaft, die sie so zuvor noch nie erlebt haben", weiß der Dresdner Rechtsanwalt Endrik Wilhelm zu berichten, der einige Paare juristisch vertritt.

2008 und 2012 hat er für ein Paar aus Sachsen auch vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geklagt. Doch die Richter erachteten den Inzest-Paragrafen als verfassungskonform. Das Bundesverfassungsgericht begründete dies sogar damit, dass nur der vaginale Sex zwischen Geschwistern strafbar sei. Die Betroffenen hätten somit noch andere "Möglichkeiten intimer Kommunikation" und würden "nicht in eine mit der Achtung der Menschenwürde unvereinbare ausweglose Lage versetzt". Der Mann, der mit seiner Schwester mehrere Kinder gezeugt hatte, musste drei Jahre ins Gefängnis.

Als der Fall im April 2012 wieder durch alle Medien ging, waren Karin Lehner und Christoph Wilken entsetzt. "Erst jetzt wurde uns so richtig klar, dass wir vom Wohlwollen all derer abhängig waren, die über uns Bescheid wussten", erzählt sie. "Wir konnten jederzeit mit einer Anzeige rechnen." Zwei Jahre sollten sie noch in Frieden leben, dann kam es zu Erbschaftsstreitigkeiten in der Familie Wilken. Eine Tante drohte Christoph: "Sei still, wir haben dich in der Hand." Dann zeigte sie die beiden an.

Einmal haben Karin Lehner und Christoph Wilken noch versucht, ihre Beziehung zu beenden. "Wir mussten einsehen, dass sie nie akzeptiert würde und ich mit Christoph auch nicht meinen Kinderwunsch erfüllen könnte", sagt sie. Schließlich wussten sie, dass der Nachwuchs des inzestuösen europäischen Hochadels häufig krank war. "Ich hab gedacht: Das darf doch alles nicht wahr sein! Mit dieser Frau könnte ich mir ein ganzes Leben vorstellen!", erinnert er sich. Noch heute kommen ihm beim Erzählen fast die Tränen: "Ich hab noch gesagt, ich kann dir doch alles bieten, bloß keine Kinder." Lange haben sie die Trennung nicht durchgehalten. Und sehr bald stellte sich heraus: Karin Lehner war von ihrem Halbbruder schwanger.

Schwanger! Oh Gott! Was würde da für ein Kind dabei herauskommen? Das fragte sich auch die Ärztin im Zentrum für Humangenetik. Einen solchen Fall hatte sie bis dahin nie vor sich gehabt. Viel zu selten sind Paarbeziehungen unter Geschwistern. In Deutschland gibt es vermutlich nicht mehr als 150 von ihnen. Schwangerschaften kommen kaum vor.

Zwischen zwei und vier Prozent betrage das Risiko für eine Fehlbildung in einer gewöhnlichen Schwangerschaft, konstatierte die Genetikerin schließlich. Bei Halbgeschwistern liege es zwischen 15 und 20 Prozent. Christoph war zutiefst verunsichert. Aber Karin munterte ihn auf. Das bedeutete doch eine Chance von 80 Prozent auf ein gesundes Kind. Und als er beim Ultraschall das Herz schlagen hörte, war sowieso alles klar. "Wir wollten unser Baby. Und wir hätten es auch mit Fehler genommen", sagt er.

Fehlbildungsrate als Hauptargument für das Inzestverbot

Die hohe Fehlbildungsrate beim Nachwuchs ist in der Bevölkerung das Hauptargument für das Inzestverbot. Dabei ist das Argument unhaltbar. Schließlich tragen andere Gruppen noch viel höhere genetische Risiken - Frauen über 45 etwa oder Menschen mit Anlagen für schwere Erbkrankheiten wie Mukoviszidose. Und dürften sich Menschen mit Behinderung dann überhaupt fortpflanzen? Man käme in ethisch hochbrisante Gefilde. Nicht umsonst hat die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik schon 2008 betont, dass die "Volksgesundheit" als Argument gegen Inzestbeziehungen ein "Angriff auf die reproduktive Freiheit aller" sei.

Auch die Minderheit im Ethikrat, die sich gegen die Straffreiheit von einvernehmlichem Geschwister-Inzest ausgesprochen hat, begründet ihr abweichendes Votum nicht mit den genetischen Problemen. Neun der 25 Mitglieder ging es um den Schutz der Familie. "Aber welche Familie ist zu schützen, wenn vor dem Kennenlernen der Partner gar kein Familienverbund bestand?", fragt Anwalt Wilhelm. "Und warum gilt das Inzestverbot dann nur für Blutsverwandte und nicht für Adoptivkinder oder Stiefgeschwister?"

Schutz der Familie? Darüber können auch Karin Lehner und Christoph Wilken nur lachen. "In unserem Fall schützt Paragraf 173 rein gar nichts", empören sie sich. "Er wurde im Gegenteil dazu missbraucht, um uns zu erpressen."

Als die Polizei klingelt

Im April, nach der Anzeige der Tante, begann sich die Staatsgewalt für das Intimleben der beiden zu interessieren. Karin Lehner ließ die zwei Ermittler in Zivil herein, die an ihrer Tür geklingelt hatten. Sauber sei es in der Wohnung gewesen, notierten die Polizisten. Und beide Beschuldigte hätten angefangen zu weinen, weil sie Angst hatten, ihnen würde das Kind weggenommen. Besonders wichtig war den Beamten offenbar der Gesundheitszustand der kleinen Mia. Das Kind sei aufgeweckt und gut entwickelt, schrieben sie. Es gebe keine Anzeichen für eine genetische Störung. Im Juni erhob die Staatsanwaltschaft trotz allem Anklage. Seither hat diese Liebe ein Aktenzeichen. Und seither zittern die beiden, was mit ihnen geschehen wird.

Staatsanwälte sollten in Einzelfällen, in denen eindeutig kein Missbrauch stattfinde, einfach ein Auge zudrücken, empfiehlt die Minderheit im Ethikrat, die am Paragraf 173 festhalten will. Doch im Fall von Karin Lehner und Christoph Wilken hat die Staatsanwaltschaft bereits einen Antrag auf Einstellung des Verfahrens abgelehnt. Die beiden hoffen nun, dass sie mit einer Geldauflage davonkommen. "Hauptsache, es gibt kein öffentliches Verfahren", hofft Karin Lehner. "Dann stünden hier die Fernsehsender vor der Tür. Und Mia würde vielleicht ausgegrenzt."

Angst vor einer Gefängnisstrafe müssen sie wohl eher nicht haben, meint der Anwalt. Schließlich kann niemand beweisen, ob Mia nicht im Ausland gezeugt wurde - in Paris oder Amsterdam, wo Inzest unter Geschwistern nicht strafbar ist. "Was ist das nur für ein absurdes Gesetz, das mir auch noch vorschreibt, mit wem ich glücklich werden darf?", fragt Christoph Wilken. "Das alles geht doch niemanden etwas an." Und Karin Lehner fügt hinzu: "Nicht umsonst gibt es im Polizeiprotokoll zum ,Geschädigten' keine Angabe. Es gibt eben niemanden, dem wir schaden."

Immerhin konnte der immense Druck von außen der Zuneigung der Halbgeschwister bis heute wenig anhaben. Ihre Blicke erzählen, wie sehr sie einander lieben. Sie sind eine Familie, die keine sein darf. Und vielleicht wollen sie eines Tages noch wachsen: Dann könnte ein Wochenende in Paris anstehen. Der Stadt der Liebe.

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