SZ-Serie: Familienfoto:In Geborgenheit gefangen

Eine Heirat begründet in Saudi-Arabien eine Allianz zwischen Familien - die gewähren Rückhalt, bestimmen aber jeden Aspekt des Lebens.

Rudolph Chimelli

Suheila ist zum sechsten Mal in Paris. Sie kam schon als Kind mit ihren Eltern aus Saudi-Arabien, wenn diese im Sommer Ferien in Europa machten. Inzwischen ist sie selbst verheiratet, hat zwei kleine Söhne und eine Tochter und flaniert im Familienverband die Champs-Elysées entlang.

SZ-Serie: Familienfoto: Ein Mann kauft in Riad das Hochzeitskleid für seine Frau.

Ein Mann kauft in Riad das Hochzeitskleid für seine Frau.

(Foto: Foto: AP)

Die Saudis lieben es, sich auf Café-Terrassen zu setzen, um zu sehen, wer sonst von ihren Freunden und Verwandten aus der heißen Wüste geflohen ist. Sie sind im August so zahlreich in der französischen Hauptstadt, dass die breiten Trottoirs der Prachtstraße manchmal schwarz sind von den Abajas der Frauen. Viele von ihnen, die allein ohne Schleier gehen würden, legen das Tuch deshalb wieder um: Sie möchten nicht, dass andere zu Hause erzählen, sie hätten sich vor den vielen Männern quasi nackt gezeigt.

Der Louvre oder Notre-Dame interessieren die Saudis weniger. Auch die Geschäfte der Luxusmarken, in denen sich Asiaten oder Russinnen drängen, sind für sie nicht wichtig. Alle großen Namen der Mode und des Konsums sind auch in den riesigen klimatisierten Einkaufskathedralen von Riad oder Dschidda vertreten - und verkaufen dort billiger als in Paris.

Hingegen freuen sich Touristen von der Arabischen Halbinsel immer wieder daran, dass es in Europa bei Reisen über Land überall grün ist. Sie gehen nach Versailles, bewundern die Gärten und suchen begierig alles auf, was es bei ihnen nicht gibt: Nachtclubs und Diskotheken. Auch Schönheitsoperationen und Spezialbehandlungen für Männer sind als Urlaubsvergnügen beliebt.

Diesmal hat Suheila ihre Kinder, die vergangenes Jahr noch wenig von der Reise hatten, nicht dabei. Das ist für niemanden ein Problem, außer dass Suheila Sehnsucht nach ihnen hat. In der Großfamilie, die in Riad eng zusammenlebt, sind genug Schwestern, Cousinen und Tanten da, unter deren Obhut sich die Kleinen daheim wohlfühlen. Die Familie lebt in mehreren Villen der breiten, flachen Fünf-Millionen-Metropole, dort wo die Wolkenkratzer des Geschäftszentrums gerade noch zu sehen sind.

Alle Häuser sind ummauert, es gibt Schwimmbäder, Dattelpalmen sowie den Komfort, den man für Erdölgeld kaufen kann. Für die verschiedenen Generationen des Familienverbands wäre es undenkbar, sich nicht täglich zu sehen.

Suheila ist mit dem engsten Freund eines ihrer Brüder verheiratet, einem Universitätslehrer. Bis die Ehe zustande kam, gab es lange Verhandlungen zwischen den beiden Familien, die nicht miteinander verwandt sind. Radwan, der präsumtive Bräutigam, hatte Suheila nur einmal als kleines Mädchen gesehen, und sie blieb ihm vage als rundgesichtig-hübsch in Erinnerung.

Umgekehrt konnte Suheila zweimal einen versteckten Blick auf Radwan erhaschen, als er zu Besuch kam, und er gefiel ihr. Natürlich bekam sie ausgiebig Fotos von ihm, er jedoch nicht von ihr.

Es folgten ausgedehnte Besuche von Radwans Mutter und seinen Schwestern bei Suheila. Viel Kaffee wurde getrunken, Eindrücke wurden gesammelt, Noten vergeben. Das Prüfungsverfahren beruht auf der Überzeugung, dass die weiblichen Angehörigen eine objektivere Bilanz der Qualitäten oder Mängel einer Braut ziehen werden als ein verliebter Mann. Nicht selten fällt eine Kandidatin durch.

Suheila bestand mit Bestnote. Das effektive Vetorecht bei der Brautwahl ist eine Kompetenz der arabischen Frauen, die oft in die Worte gefasst wird: "Wenn mein Mann glaubt, dass er im Kaffeehaus über Politik herumschreien muss, soll er das ruhig machen. Über wirklich Wichtiges entscheide ich."

Mehrehen nur für Reiche

Als Nächstes war die Frage der Morgengabe zu regeln, der Vermögenswerte, die ein Mann laut Ehevertrag am Tag der Hochzeit seiner Frau übereignen muss. Diese Gabe in Geld, Schmuck, Immobilien oder anderem ist in der Regel so hoch, dass sie das Vermögen der Familie des Bräutigams erheblich strapaziert.

Mehrere Frauen zu nehmen, ist einem Mann theoretisch erlaubt, aber nur wirklich Reiche können es sich leisten, und selbst im konservativen Saudi-Arabien ist es nicht mehr gut angesehen. Zahlen liegen keine vor. Im fortschrittlicheren, aber ärmeren Ägypten gibt es laut einer mehrere Jahre alten Erhebung offiziell nur etwa 3000 Mehrehen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Warum Männer kaum jemals eine unverschleierte Frau sehen oder gar mit ihr sprechen können.

In Geborgenheit gefangen

Außerdem ist die Morgengabe für den Bräutigam und dessen Familie verloren, falls er als Ehemann die Verstoßung ausspricht. Scheidungen sind deshalb relativ selten. Unter den acht Geschwistern von Suheilas Vater beispielsweise kam lebenslang keine Scheidung vor, bei ihren drei Brüdern und drei Schwestern bisher auch nicht.

Etwa 40 Prozent des gesamten Vermögens sind in Saudi-Arabien in der Hand von Frauen, in der Geschäfts-Hauptstadt Dschidda sogar mehr als die Hälfte. Anders als im Westen begründet eine Heirat eine Allianz zwischen Familien, wichtig für das gesamte soziale Umfeld, für Reputation, Geschäft, Karrieren und Politik.

Getrennte Hochzeitsfeier

Als über alles Einigung bestand und die Verlobung offiziell wurde, durfte Radwan vor der Hochzeit Suheila einmal sehen, ohne Abaja, im kurzen Kleid. "Ich wusste nicht, was ich dabei sagen sollte", erzählt sie lachend. Diese Begegnung, Schoufa genannt, war nicht immer die Regel. "Ich habe meinen Mann zuerst in der Hochzeitsnacht gesehen", sagt Suheilas Mutter. Das Hochzeitsfest selbst wird von Männern und Frauen der Familie immer noch getrennt zelebriert. Auch Radwan und Suheila sahen sich erst nach der Hochzeitsfeier wieder.

Suheila hat in London einen Hochschulabschluss in Ingenieur-Wissenschaften gemacht. Als sie zum Studium nach England ging, wurde sie von einem Cousin begleitet. Für ihn wurde gleichfalls ein Studienplatz gefunden, und er wachte während der gesamten Ausbildungsjahre über die Ehre seiner Cousine. Es wäre unvorstellbar, dass ein unverheiratetes Saudi-Mädchen allein im Ausland lebt. Stets ist die Familie präsent.

Einhellig versichern Suheila und ihre Mutter: "Wir möchten mehr Bewegungsfreiheit haben, uns beruflich besser entfalten können, Auto fahren dürfen und manches andere. Aber glauben Sie ja nicht, dass wir die westlichen Frauen beneiden." Genau dies beteuern fast alle Saudi-Frauen, soweit sie im konservativsten Land der islamischen Welt Kontakt zu Ausländern haben.

Glaubensregeln und beduinische Tradition haben ein festes Geflecht von Verhaltensregeln geschaffen, die selbst von der jungen Generation nur selten in Frage gestellt werden. Auf die Dauer fühlen sich Saudis beider Geschlechter nur in der Familie sicher, aber sofort einsam und hilflos, wenn sie auf sich gestellt sind.

Und in der Praxis hat ein junger Mann kaum eine Gelegenheit, außerhalb der Familie jemals eine unverschleierte Frau zu sehen oder gar mit ihr zu sprechen. Schulen, Universitäten, medizinische Behandlung sind nach Geschlechtern getrennt. Banken haben separate Eingänge, Restaurants und Cafés eine gegen Blicke geschützte Familienabteilung, offen auch für Frauen ohne Begleitung, aber nicht für unbegleitete Männer.

Flirt mit Pappschild

Sogar von Einkaufszentren, die etwas auf sich halten, werden alleinstehende Männer abgewiesen. Im Inneren müssen Frauen und Männer um eine Eiswaffel oder einen Hamburger separat zu beiden Seiten einer Trennwand anstehen. Auf "Belästigung" einer Frau stehen Verhaftung und Prügelstrafe.

Risikofreudige Männer überholen per Auto andere Wagen, in denen sie ein weibliches Wesen vermuten: Sie halten dabei ein Pappschild mit ihrer Telefonnummer ins Fenster und hoffen, dass sie angerufen werden. Jenseits des Golfs, in Iran, wo die Sitten ein wenig lockerer sind, schlagen junge Männer während der Büßer-Prozession zum schiitischen Trauertag Aschura ihre Fäuste auf die Brust und rufen den Mädchen am Straßenrand rhythmisch ihre Nummern zu. So etwas geht in Saudi-Arabien nicht. Doch auch hier gibt es den virtuellen Flirt per Telefon.

Oft lehnen im Lichthof des prächtigen Feisalijeh-Zentrums von Riad Gestalten an den Säulen, das Mobiltelefon am Ohr. Sie können sich hören, was auch schon verboten ist, denn ein Fremder darf die Stimme einer Frau nicht vernehmen. Immer häufiger tolerieren Familien indessen, dass Verlobte wenigstens miteinander telefonieren.

Diese modernen Säulenheiligen freilich können sich von weitem sehen, berühren niemals. In diese Wand der Segregation schlägt das Internet eine Bresche. Es erlaubt verpönte Kontakte, Austausch von Botschaften, Bildern, Anzüglichkeiten, Liebeserklärungen ohne reale Substanz. Mehr kann daraus nicht werden, schon gar nicht eine Allianz von Familien.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: