Süddeutsche Zeitung

Syrischer Alltag: Familie:"Du heiratest keinen Mann, du heiratest eine Familie"

Rasha aus Damaskus über das Leben in einer syrischen Großfamilie, arrangierte Ehen - und die Frage, warum Menschen in Deutschland überhaupt heiraten.

Protokoll: Felicitas Kock

Rasha* kommt aus der syrischen Hauptstadt Damaskus. Sie hat dort Wirtschaft studiert und später als Abteilungsleiterin in einem mittelständischen Unternehmen gearbeitet. Vor anderthalb Jahren ist sie nach Deutschland geflohen, hat seit Kurzem ihre Aufenthaltserlaubnis. Bei mehreren Tassen Tee im Münchner Einewelthaus gibt die 28-Jährige Einblicke in das Leben einer syrischen Großfamilie.

"Die Familie ist das System, das in Syrien alles zusammenhält. Ich habe hier schon mehrere Frauen aus der Heimat getroffen, die zurückwollen, weil sie es ohne Verwandtschaft nicht aushalten. Sie fühlen sich einsam und hilflos ohne das riesige Netz aus Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, das bei uns in jeden Lebensbereich hineinreicht.

Nehmen wir das Thema Hochzeit: Du heiratest in Syrien keinen Mann, du heiratest eine Familie. In traditionellen Kreisen werden Ehen meist arrangiert. Fast immer stellt die Mutter des künftigen Bräutigams den Kontakt her, sobald sie eine würdige Schwiegertochter entdeckt hat. Schafft sie es, ihren Sohn von den Vorzügen der Auserwählten zu überzeugen, gibt es mehrere Treffen. Immer mehr Verwandte beider Seiten nehmen teil, schließlich wollen alle sehen, mit welcher Sippe sie sich da einlassen.

Ein Jahr voller Blumen und Geschenke

Umgeben von Familienmitgliedern können die jungen Leute zum ersten Mal miteinander reden. So gut man eben sprechen kann, wenn zehn Leute nebenan sitzen. Nach dem dritten Treffen entscheidet die Frau, ob sie den Bewerber heiraten will.

Sagt sie "ja", folgt eine etwa einjährige Verlobungszeit, eine Zeit des Kennenlernens, bevor es ernst wird. Ich erinnere mich gerne daran. Ich war 22, mein Verlobter ein paar Jahre älter. Wir sind oft ausgegangen, in schicke Restaurants. Er hat mir Blumen gekauft und eine Menge Geschenke gemacht. Klar, man will sich von seiner besten Seite präsentieren.

Mittlerweile kommt es auch vor, dass Paare schon länger eine Liebesbeziehung haben und die Hochzeit selbst in die Wege leiten, damit sie endlich zusammenziehen können. Bis dahin leben wir nämlich zu Hause bei den Eltern. Sex ist tabu. Ich frage mich, warum die Deutschen überhaupt heiraten, wenn sie vorher schon zusammenleben und das Bett teilen dürfen. Was ist dann der Sinn einer Hochzeit?

Wenn es später mal Streit gibt, sind wieder die Familienoberhäupter gefragt. Offiziell sind das die Väter, tatsächlich haben meist die Mütter das Sagen. Wenn nicht einmal sie den Streit beilegen, ist auch eine Scheidung möglich. Dazu kommt es aber selten.

Die Verwandtschaft regelt ihre Belange intern, das gilt für alle Lebensbereiche. Wenn es einem Familienzweig finanziell schlecht geht, fängt das Netz der Großfamilie ihn auf. Und wenn man einen guten Job sucht, kann es nicht schaden, eine Empfehlung von der richtigen Person zu haben. Auch da ist eine weitverzweigte Verwandtschaft nützlich.

Die Arbeitsteilung sieht in traditionellen Familien so aus, dass sich die Frau um Haushalt und Kinder kümmert und der Mann arbeiten geht. Wenn die Frau arbeiten will, ist das in Ordnung, solange sie weiterhin ihre anderen Aufgaben erledigt. Man zerreißt sich dann als berufstätige Mutter zwischen Arbeit, Haushalt und Kinderbetreuung. Das kennt man in Deutschland auch, denke ich. Für die Kleinen gibt es Kindergärten, die sind aber im Gegensatz zu Schule und Universität relativ teuer. Nicht jeder kann sich das leisten.

Im Alltag kochen die weiblichen Familienmitglieder oft gemeinsam, am Wochenende trifft man sich bei schönem Wetter zum Picknick, bei schlechtem Wetter zu Hause. Und dann sind da die beiden großen religiösen Feste: das Opferfest und das Fastenbrechen nach dem Ramadan.

Dass alle zusammen feiern, würde schon logistisch nicht klappen. Deshalb gibt es ein ständiges Kommen und Gehen. Wir fahren zuerst zu den Eltern meines Mannes, dann zu meinen Eltern, dann werden Cousins und Cousinen besucht, die natürlich ihrerseits herumfahren. Die Jungen kommen zu den Alten, das ist das Prinzip. Irgendwann trifft man dann ein paar Freunde und am Ende hat man mit etwas Glück sogar noch Zeit für sich. Es ist hilfreich, dass die beiden Feste mehrere Tage dauern, sonst würde man alles gar nicht schaffen.

"Ich persönlich versuche, nicht viel an meine Familie zu denken"

Diese Familiensache ist toll, weil sie Sicherheit gibt. Du bist nie auf dich allein gestellt, auch nicht, wenn du alt bist und dich nicht mehr selbst versorgen kannst. Das Ganze kann aber auch zum Problem werden. Wenn man etwas anderes machen will, als die Verwandtschaft sich vorstellt, zum Beispiel. Man ist so eingebunden, dass kaum Raum für Eigenständigkeit bleibt. Das ist in Deutschland anders, gerade als Frau ist man hier viel freier. Ich genieße das.

Ich persönlich versuche gerade, nicht so viel an meine Familie zu denken. Nicht, weil ich ohne sie nicht klarkommen würde - ich habe schon in Syrien versucht, möglichst eigenständig zu sein, habe studiert und gearbeitet -, sondern aus Selbstschutz. Meine Familie lebt größtenteils noch zu Hause in Syrien, sie ist nicht in Sicherheit. Wenn ich länger darüber nachdenken würde, würde ich zerbrechen."

*Name geändert

Serie "Syrischer Alltag"

Fünf Jahre Krieg in Syrien. Fünf Jahre Fassbomben, Tod und Zerstörung - und Millionen Flüchtlinge, die in den Nachbarländern und darüber hinaus Schutz suchen. Das Land, das Syrien einmal gewesen ist, gerät bei all dem Leid leicht in Vergessenheit. Wie war das Leben dort? Wer sind die Menschen, die aus Damaskus, Homs, Latakia kommen und in Deutschland mittlerweile die größte Flüchtlingsgruppe stellen? Wie haben sie gelernt, gefeiert und geliebt? Wie haben sie sich gekleidet und wohin sind sie verreist?

Für die Serie "Syrischer Alltag" haben acht Flüchtlinge mit uns über ihre Heimat gesprochen. Über das Leben vor dem Krieg, das in einer Diktatur stattfand und schon deshalb nicht immer sorgenfrei war. Dennoch: Die Protokolle sind Erinnerungen an eine glücklichere Zeit. Und sie zeigen, dass das Wort "Flüchtling" nur den Bruchteil einer Biografie beschreiben kann.

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