Süddeutsche Zeitung

Susann Till:Das Chutney ihres Lebens

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So viele Schicksalsschläge, da hätte Susann Till auch einfach aufgeben können. Stattdessen gründete sie mit 69 eine Firma - und fand ihre eigentliche Bestimmung

Von Marten Rolff

Lesedauer: 9 Minuten

Es mag im Nachhinein albern klingen, aber man hatte fest damit gerechnet, dass Susann Till auf einem Bauernhof lebt. Zwar war davon nie die Rede gewesen, weder in den Berichten des Lokalfernsehens über sie noch in den Telefongesprächen mit ihr, doch es erschien irgendwie selbstverständlich: bei einer älteren Dame, die Früchte einkocht, im Alten Land südlich von Hamburg, einem der größten Obstanbaugebiete der Republik. Backstein, Fachwerk, Apfel- und Kirschbäume überall, und dann endet die Landpartie abrupt vor einem schlichten Einfamilienhaus an einer Ausfallstraße von Stade.

Es ist die richtige Adresse, darauf weist auch der heftige Essiggeruch hin, der erst in Schwaden aus einem Seitenfenster quillt und sich dann als olfaktorischer Teppich über die Einfahrt legt. Noch während die Hausherrin den Besucher hineinkomplimentiert - "schön, dass Sie da sind, ich hoffe, es macht nichts, dass wir schon angefangen haben" -, gewinnt das Drumherum an Stimmigkeit. Die nur fünf Quadratmeter kleine Küche aus den 70er-Jahren, die einfach weiß übergestrichen wurde, die kniehohen Töpfe, die nebeneinander kaum auf den Herd passen, oder die vielen Kräuterkisten auf der engen Terrasse: All das erzählt viel sinnfälliger vom erstaunlichen Erfolg der Susann Till, als jedes Bauernhof-Oma-Klischee es je vermochte.

Susann Till kocht Chutneys ein, also jene Form von herzhafter Marmelade (wenn man das denn so nennen will), die zum Beispiel in Indien oder England gern zum Curry gereicht wird und in Deutschland, etwa als Beilage zu Wild, immer noch Exotenstatus genießt. Oberflächlich betrachtet, geht es hier also ums Einwecken. Darüber hinaus aber handelt Tills Geschichte von einem bemerkenswerten Talent zum Neuanfang. Und von diesem Quäntchen Kompromisslosigkeit, ohne das echte Qualität unmöglich ist. Letzteres ist wichtig. Denn wo zwei Töpfe auf einem Cerankochfeld zu Sinnstiftern werden, muss das Früchtemus darin schon etwas Besonderes sein.

Für Nichtkulinariker und alle, die am Einkochen eher die Gartenküchen-Romantik schätzen, mag Susann Till bei der Arbeit wie eine Frau wirken, die sich mit Stilempfinden durch den Frühling bewegt. Sie kocht an diesem Tag Spargel-Chutney, auf der Arbeitsplatte im Mini-Büro gegenüber der Küche häuft sich - dekorativ verteilt - geschnittenes Obst und Gemüse in Grün-, Weiß- und Gelbtönen, von verschiedenen Spargelsorten über Ingwer, Birnen, Limetten und Bärlauch bis zur Drachenfrucht.

Aus Tills Schürze ragt eine elegante Kragenbluse, die 73-Jährige trägt diskretes Make-up zu Perlohrringen und schwerer Vintagebrille, ein Look, der auch daran erinnert, dass sie früher die Modeschule besucht und Couture geschneidert hat. Während sie also zwischen Büro und Küche hin und her eilt, karamellisierende Zwiebelwürfel umrührt, mit Spargelwasser löscht oder Töpfe wuchtet, streift ihre Erzählung im verwirrend aufgeräumten Ton immer wieder den einen oder anderen Schicksalshammer. Und so schälen sich langsam die Eckpfeiler dessen heraus, was Till lapidar "meine nicht so glückliche Zeit" nennt.

Jetzt aber bitte nicht dramatisieren! Das will sie nicht, "denn man muss nach vorn blicken, alles andere hat doch gar keinen Zweck". Und überhaupt, die Sache ging ja gut aus. Aber weil die "nicht so glückliche Zeit" zentral ist für die Geschichte, zählt man alles Unschöne am besten kurz auf, um es nüchtern abzuhaken, also los: Susann Till hatte mehrere Rücken-Operationen, musste zeitweise ein Metallkorsett tragen, dann starb ihr Mann, sie selbst erlitt einen Schlaganfall, lag zehn Tage im Koma, Ärzte rieten zu einer dauerhaften Betreuungseinrichtung, da hatte sie die Sepsis noch gar nicht, die fast zur Amputation einer Hand geführt hätte und erneut Monate der Reha nach sich zog.

Die rhetorische Frage ist nun, wie andere Menschen in dieser Lage gehandelt hätten. Susann Till würde sie nie stellen. Sie kann nur erzählen, was sie - damals 69 - gemacht hat: Sie entließ sich selbst aus der Klinik und gründete ein Unternehmen.

Man kann das längst so nennen. Auch wenn die Firmenzentrale nur fünf Quadratmeter misst und die Produktionsmittel zwei Töpfe sind. Und auch, wenn die Anfänge eher ununternehmerisch klangen. Es gab da einen Familienrat mit der Frage: Was nun? "Und die Kinder fanden: Mama, wenn du unbedingt was tun willst, dann mach doch was mit Kochen, das kannst du doch so gut."

Sie kocht nach Bauplan, würde ihr Vater sagen, von dem sie die Liebe zur Küche geerbt hat

Und "gut" schien viel zu bedeuten, denn nun, vier Jahre später, werden Tills Chutneys an mehr als 200 Läden ausgeliefert, eine Pralinen-Linie (gefüllt mit Chutneys, natürlich) ist in Arbeit, und die Chefin steht am Herd und sagt Sätze wie: "Kochen beruhigt mich eben ungemein" oder "Ich habe jetzt oft 18-Stunden-Tage und dabei so viel Energie wie noch nie zuvor."

Wie das möglich ist?

Jetzt aber bitte nicht küchenpsychologisieren! Das will sie nicht. Denn es gibt da keine Gebrauchsanweisung, die gibt es ja nicht mal für Tills Chutneys, von denen ihre Mitarbeiterin Anna sagt: "Ich schnippel mit ihr Obst und Gemüse, ich kenne die Rezepte, ich sehe ihr zu, doch es würde mir nichts nützen, weil nur sie es so hinkriegt."

Es ist kein Zufall, dass Susann Till sich für Chutneys entschied. Sie lebt in einem Obstanbaugebiet, aber Marmelade war ihr nie komplex genug (außerdem ist sie nicht nur gegen Süßliches, sondern auch gegen Süßes). Chutneys dagegen, so hatte sie beobachtet, "schmecken in Deutschland meist entweder zu sauer oder zu süß oder beides". Und als schließlich ein indischer Kunde auf der Messe ohne zu fragen eines ihrer Mango-Chutney-Gläser auslöffelte und dabei zufrieden seufzte, da wusste sie: "So verkehrt kann ich nicht liegen."

In der Küche ist der Essiggeruch ("Essig muss mild sein!") jetzt einem vielschichtigen Duft aus Zwiebelkaramell, Ingwer, Gemüse und Garam Masala gewichen. Wie die Köchin immer wieder Tranchen von Spargel und Birne ("Die hält alles zusammen!"), rosa Rhabarber oder grüner Peperoni nachlegt, wie sie mit gemahlener Vanilleschote und Bärlauchpüree, Zitronenpfeffer und Limettenschale würzt und abschmeckt, das hat fast etwas Spontanes. Doch was wie Bauchgefühl aussieht, entsteht im Kopf. Sie kocht nach Bauplan, würde ihr Vater womöglich sagen, von dem sie die Liebe zur guten Küche geerbt hat, obwohl er eigentlich Innenarchitekt war.

So verfügt Susann Till über ein Aromengedächtnis, das auch die überraschendste Kombination in geschmackliche Ausgewogenheit überführt. Feige mischt sie mit Olive, Paprika, Kiwi, Limette und Sellerie. Pflaume mit Grapefruit, Granatapfel und Chili. Granny Smith mit Lauch und Sylter Algen. Die feine Säure ihres Zitronenchutneys tariert sie mit Birne und Banane aus. Sie kocht gern nach Farben, weil es ästhetisch ist und fast immer funktioniert. Sie klappert die Bauern im Alten Land nach dem besten Obst ab und ist doch skeptisch gegenüber all der heuchlerischen Regional-Romantik, die sich in der Lebensmittelwerbung breitmacht wie ein Hefeklops in der Sauna. "Wenn ich Flug-Mangos brauche, kann ich die Klimabilanz bejammern, ich kann aber auch sagen: Die Pakistaner müssen auch leben. Beides stimmt."

Spaß haben und möglichst wenig dem Zufall überlassen, ist Tills Motto. Ihr Sohn hat ihr eine Webseite gebaut, ihre Schwiegertochter, eine Grafikerin, professionelle Etiketten entworfen. Ohne die, sagt Till, "wären es ja bloß Gläser". Als alles fertig war, hat sie diese Gläser in eine Tasche gestopft, ist die Lebensmittel-Märkte abgefahren und hat den Chefeinkäufer verlangt: "Hier, probieren Sie mal." So wurde der örtliche Edeka ebenso aufmerksam auf Till wie die Berliner Feinkostkette "Butter Lindner". Oder Fernseh- und Sternekoch Christian Rach, der eines Tages anrief: "Wie schaffen Sie es nur, dass der Spargel in Ihrem Chutney seinen Biss behält?" "Tja", sagte Susann Till da und lachte, "dafür muss man natürlich kochen lernen."

Freundlich und direkt auf Augenhöhe segeln, das hilft offenbar beim Kurshalten, ob nun im Rathaus von Stade, wo Till mit Flüchtlingskindern kocht, oder in einem Hamburger Sterne-Restaurant, wo sie in die Küche ging und dem Koch riet: "Über den Feigensenf sollten Sie nachdenken, der ist doch unter Ihrem Niveau."

"Bei der Qualität sollte man nie Kompromisse machen", findet Susann Till, während sie gemeinsam mit Anna am Nachmittag das Chutney in ihrer Küche abfüllt. Ein Topf bringt etwa 100 Gläser zu 150 Millilitern. 7,50 Euro wird jedes später im Laden kosten. "Produzier doch billiger", raten ihr viele, aber das möchte Till nicht, "dann bringt das Ergebnis keinen Spaß mehr."

Reich wird die Chutney-Köchin so sicher nicht. Aber es reicht für das Honorar von zwei Mitarbeiterinnen und "von Carsten", einem früheren Marketingfachmann, den sie auf Facebook kennengelernt hat und der sie berät. Und es reicht auch, um ein paar Pläne zu schmieden: Ein Kochbuch würde sie gern machen. Oder einige Flüchtlingsfrauen in ihr kleines Unternehmen einbinden. "Bis ich 80 bin, steht das Imperium, sage ich immer", erklärt Till und grinst. Dann will sie aufhören und reisen. Bis dahin aber hat sie noch viel Zeit, sich darüber zu freuen, wohin einen ein paar Töpfe Früchtemus bringen können. Nach Berlin, wo Susann Till für einen Innovationspreis nominiert war, bei dem Klaus Wowereit die Laudatio hielt. Zum Niedersachsenpreis nach Hannover. Auf Messen und in Sterneküchen. Oder in ein vietnamesisches Luxusresort, das Till gerade darum gebeten hat, ein Chutney zu entwickeln.

Wenn asiatische Spitzenköche schon mal am Elbdeich nach Rezepten fragen, findet Susann Till, dann sollte man sie nicht warten lassen. Soeben ist sie abgeflogen.

Erschienen in der SZ vom 7.5.2016

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Quelle:
SZ vom 07.05.2016
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