Suizid des Vaters:Suizid ist ein Tabu

Sein Suizid hat mir lange Zeit das Gefühl gegeben, dass mein Vater lieber gestorben ist als bei mir zu bleiben. Das hat mir viel von meinem Selbstwertgefühl, meinem Selbstbewusstsein genommen. Ich habe es als einen persönlichen Akt gegen mich empfunden, obwohl ich weiß, dass er mich sehr geliebt hat. Meine Mutter sagt, er hat im Moment vor seinem Tod nicht an uns gedacht, denn dann hätte er das nicht tun können. Aber die Frage, warum er tot ist, hat mich lange umgetrieben. Noch nie habe ich mich so alleine gefühlt wie in diesen Jahren nach seinem Tod. Ich dachte, ich werde niemandem je begreifbar machen können, was in mir vorgeht. Ich dachte, niemand kann das je verstehen. Suizid ist ein Tabu.

Ich habe begonnen, mich intensiv damit zu beschäftigen: Warum sich Menschen töten und wie Medien mit dem Thema umgehen. Und ich bin dabei immer wieder auf dieses Tabu gestoßen, auf diese Unsicherheit, die es Betroffenen so schwer macht, sich zu öffnen. Es ist wichtig, dass Medien einen Weg finden, darüber zu schreiben. Denn es ist erwiesen, dass nicht entscheidend ist, ob, sondern wie über einen Suizid berichtet wird. Die WHO nennt den Suizid eines der größten Gesundheitsprobleme weltweit.

Eine Antwort auf mein Warum

Dennoch herrscht eine so große Sprachlosigkeit und Stille. Sie schadet allen. Sie schadet jenen, die jemanden verloren haben, weil sie mit ihrer Fassungslosigkeit und ihrem Schmerz alleine bleiben. Und sie schadet auch denen, die daran denken, sich zu töten. Weil es ihnen damit so schwer gemacht wird, sich zu öffnen, darüber zu reden und Hilfe zu bekommen.

Die schönsten Nachrichten, die ich heute erhalte, kommen von Menschen, die sagen, sie hätten selbst auch an Suizid gedacht und dann hätten sie in meinem Buch gelesen, wie das für Angehörige ist. Und sich nun Hilfe gesucht, und mit ihrer Familie darüber geredet. Manche schreiben mir, dass sie sich Sätze in meinem Text anstreichen und damit zu Freunden gehen und sagen, schau mal, so fühle ich auch. Es ist leichter, eine Stille zu durchbrechen, wenn man schon ein paar Wörter hat. Weitere zu finden, ist dann ein bisschen leichter.

Mir selbst hat das Schreiben dabei geholfen, eine Antwort auf mein Warum zu kriegen. Ein Teil der Antwort ist sicher, dass vier Jahre vor meinem Vater mein Bruder gestorben ist. An einem geplatzten Blutgerinnsel im Kopf. Es ist kein Zufall, dass mein Vater sich in der Nacht erschossen hat, in der mein Bruder 30 Jahre alt geworden wäre. Er konnte mit dem Verlust nicht umgehen. Das liegt auch daran, dass es ihm so schwer möglich war, sich zu öffnen. Mein Vater war sehr stark, er war hoch intelligent und feinfühlig. Als mein Bruder starb, hat er sich körperlich verändert: Seine Haare wurden schneeweiß, plötzlich ging er gebückt, seine Schritte wurden kurz und tapsig. Ihm hat Angst gemacht, dass er körperlich und geistig abbaut.

Suizid des Vaters: Saskia Jungnikl hat gelernt: "Es ist leichter, eine Stille zu durchbrechen, wenn man schon ein paar Wörter hat."

Saskia Jungnikl hat gelernt: "Es ist leichter, eine Stille zu durchbrechen, wenn man schon ein paar Wörter hat."

(Foto: Rafaela Pröll)
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