Man kann es auch in Tagen der Flüchtlingskrise finden, das Glück. In der Ausgabestelle für Kleider zum Beispiel, so chaotisch und laut es dort auch zugehen mag. Freiwillige, die sich nicht kennen, arbeiten zu lange mit zu wenig Schlaf; sie treffen auf erschöpfte Menschen, deren Sprache sie nicht sprechen. Es müssten Streit und Spannung in der Luft liegen.
Helfen macht glücklich
Doch in der Halle breitet sich Hochstimmung aus und die Ahnung, wie es sein könnte, wenn alle eine große Menschheitsfamilie wären. Das wird so nicht lange bleiben, doch Zeit für Ernüchterung bleibt noch genug. Jetzt ist das Glück da. Helfen macht glücklich. Es macht glücklich, ohne dass man dafür Ratgeber lesen, Blogs verfolgen, einen Coach aufsuchen muss. Es ist ein geradezu unheimlich anarchisches Glück.
Die Bundesrepublik ist ein ziemlich glückliches Land, eigentlich. Es gibt seit 70 Jahren keinen Krieg und keine Diktatur. Land und Leute sind wohlhabend wie nie; die Korruption ist gering, das Bildungsniveau ordentlich, die Straßen sind geteert, die Züge fahren meist nach Plan.
Und trotzdem scheint das halbe Land gerade das Glück zu suchen. In Yogakursen, Selbsterfahrungsgruppen, bei Individual-Coachings; auf Reisen ins Innere, in die Wildnis oder ins Wellnesshotel; an der Bar, beim Dating oder wenigstens mit dem Buch auf dem Sofa. Es suchen gerade jene, die man glücklich nennen könnte: die Gebildeten, die Wohlhabenden, die Avantgardisten. Weil sie unglücklich sind? Weil sie ihr Glück als unvollkommen empfinden? Oder weil ihnen das einer eingeredet hat? Es ist ein Boom, der von einem Missverständnis lebt: dass die Glückssuche glücklich macht, am besten bis ans Lebensende.
Dass Menschen nach dem Glück suchen, ist Teil ihres Menschseins. "Alle wünschen sich ein glückliches Leben", wusste schon Seneca. Gäbe es das Kribbeln nicht und die Ahnung, dass da mehr sein könnte als das gegenwärtige Leben, wäre die Menschheit hocken geblieben in der Höhle; ohne den Rausch der erfüllten Sehnsucht hätte sie nie etwas riskiert.
Gerade die Deutschen haben sich da lange wenig getraut. Sie waren ein Volk der Pflichterfüller, sie taten in Staat und Armee, Familie, Beruf und Kirche, was ihnen aufgetragen wurde; Glück bedeutete, dies zur Zufriedenheit der anderen zu tun. Ihre Philosophie war die der Stoiker, die danach strebten, Schwankungen im Seelenleben zu vermeiden. Für die Dichter der Romantik waren die Momente des Glücks damit erkauft, dass der Rest des Lebens aus unerfüllter Sehnsucht bestand; für die anderen wartete das Glück im Jenseits - vielleicht.
Dauerglück ist eine Horrorvorstellung
Seit einigen Jahren aber scheinen die Deutschen das lang verpasste Glück finden zu wollen, und zwar möglichst schnell. Sie hämmern und dengeln, als ihres Glückes Schmied, an ihrem Leben herum. Sie ändern ihre Schlaf- und Essgewohnheiten, quälen sich durch neue Sportarten, suchen neue Jobs, weil die alten sie nicht mehr erfüllen, neue Bett- und Lebenspartner. Sie tun das immer in der Sorge, dass es nicht reichen könnte zum vollkommenen Glück, dass sie schon wieder den Augenblick verpasst haben, zu dem sie hätten sagen können: verweile doch, du bist so schön.
Für den weiten Markt der Glücksanbieter zwischen seriöser Lebensberatung und Scharlatanerie ist das eine solide Gewinngarantie. Für die Schar der Glückssucher birgt es die Gefahr, mit ziemlich viel Kosten und Mühe unglücklich zu werden. "Um nicht sehr unglücklich zu werden, ist das sicherste Mittel, dass man nicht verlange, sehr glücklich zu sein" - das wusste schon der alte Grantler Arthur Schopenhauer.
Denn der immerwährende Glückszustand ist eine Horrorvorstellung. Er wäre wie der immerwährende Rausch: Erst verschafft er Weite und Wonne, dann verlangt er nach Dosis-Steigerung, am Ende geht man daran zugrunde. Im immerwährenden Glück darf es keine Traurigkeit geben und keine Melancholie; Schmerz, Tränen oder Misserfolge werden verdrängt oder umgedeutet als Schritt auf dem Weg zum wahren Glück. Nur: Wer nie traurig oder melancholisch sein darf, kann auch kein Glück empfinden. Beide Seiten des Lebens gehören zusammen.
Vielleicht wusste der amerikanische Psychologe Martin Seligman wirklich nicht, was er auslösen würde, als er Ende der 70er-Jahre seine "positive Psychologie" formulierte, die er später im Buch "Der Glücks-Faktor" zusammenfasste: Glück hat mit dem Willen zum Glück zu tun. Wer positiv denkt, erreicht, was er will.
Es ist die Umkehrung des Satzes von Karl Marx, demzufolge das Sein das Bewusstsein bestimmt: Das Bewusstsein bestimmt das Sein. Und wenn das Sein nicht optimal ist, wenn das Glück ausbleibt, dann liegt das am falschen Bewusstsein. Auch Lebensberater wie Dale Carnegie hatten schon ähnlich gedacht, mit Seligman aber wurde der Gedanke zum Allgemeingut in der Coaching- und Selbstoptimierungsbranche.
Lächle und optimiere dich selbst
Als die amerikanische Journalistin Barbara Ehrenreich die Diagnose Brustkrebs bekam und im Internet nach Hilfe suchte, war sie erschüttert, auf wie viel Verdrängung im Namen des positiven Denkens sie traf: Nimm die Krankheit als Herausforderung! Sie ist ein Schritt zur Weiterentwicklung! Jetzt bloß nicht pessimistisch werden! Sie wollte aber den Brustkrebs nicht als Chance sehen, ihre Sorgen nicht verdrängen - vor lauter Angst, selber schuld zu sein, wenn der Krebs sich nicht besiegen lässt. Barbara Ehrenreich recherchierte über die Optimismus-Industrie, auf die sie da gestoßen war, und schrieb ein wunderbar zorniges Buch: "Smile or die", lächle oder stirb. Mach die Grinsekatze - oder verzieh dich aus diesem Leben. Es geht doch gar nicht ums Glück, lautet ihr Fazit. Es geht ums reibungslose Funktionieren in der Leistungsgesellschaft, dem dann das Etikett "Glück" aufgepappt wird.
Vielleicht sind die Deutschen ja insgesamt tatsächlich am glücklichsten, wenn der Schmerz nachlässt, und deshalb nicht ganz so empfänglich für die Scharlatane des Glücks. Und ja - es ist auch nicht ganz falsch, sich klarzumachen, was man vom Leben will und wie man das Gewollte erreichen kann. Aber die Vorstellung vom Glück als Willens- und Bewusstseinsakt hat sich auch hierzulande pestilenzartig festgesetzt: Führt die Partnerschaft nicht jeden Tag zum Glück und der Job nicht zur Erfüllung, läuft was falsch, macht man was falsch, sollte man schleunigst an der Bewusstseinsschraube drehen.
Entsprechend wächst inzwischen auch die Zahl der Bücher, die mit diesem inflationierten Glück abrechnen. Der Berliner Philosoph Wilhelm Schmid hat sich mittlerweile in mehreren Publikationen über die, wie er schreibt, "Glückshysterie" ausgelassen - und nun erscheint das Buch des Kölner Psychiaters und Bestsellerautors Manfred Lütz mit dem ironischen Titel: "Wie Sie unvermeidlich glücklich werden". (Auch für die Kritiker des neuen Glücksrittertums gibt es offenbar einen soliden Markt.) Schmid, der Philosoph, war einst säkularer Seelsorger an einem Spital bei Zürich, wo er auf die reichen, rastlosen und unglücklichen Glückssucher traf. Lütz ist auch katholischer Theologe und arbeitet viel mit geistig behinderten Menschen - die beiden kommen also aus sehr unterschiedlichen Richtungen. Und trotzdem klingt, was sie raten, sehr ähnlich.
Glück ist nicht herstellbar
Glück ist schön, sagen der säkulare Philosoph und der katholische Psychiater, aber es ist nicht alles. Schmid lobt die Melancholie, das glückliche Unglücklichsein, das weiß, dass die Welt unerlöst ist - ohne sie deshalb als Jammertal zu empfinden. Lütz möchte die Leser vom "Utopiesyndrom" befreien, das die Menschen dazu bringt, nach dem Unerreichbaren zu streben, statt das Mögliche zu verwirklichen. Das Glück ist eben nicht herstellbar. Es entzieht sich gerade dem, der es erzwingen will. Es kommt, wenn man es nicht sucht und am wenigsten erwartet - zum Beispiel in der Kleiderkammer für Flüchtlinge, wenn man etwas Sinnvolles für andere tut.
Sucht den Sinn statt das Glück! Das ist das Fazit bei Lütz wie bei Schmid. Sinn bedeutet, die Welt jenseits der Selbstbeschäftigung zu sehen, sich auf Gemeinschaft und Verantwortung einzulassen. Wer nur dem Wohlfühlglück nachjagt, kann andere Menschen nicht wirklich lieben, keine Kinder erziehen oder Alte pflegen. Er kann aber auch keine Weltliteratur schreiben oder ein Medikament entwickeln - der Sinnsucher kann das alles schon. Und dann ist es auf einmal da, das Glück. Es lässt sich, wie ein wildes Tier, nicht fangen, zähmen, züchten. Das Glück muss frei sein, sonst ist es kein Glück.
Befreit das Glück aus der Sklaverei des Selbstoptimierungswahns! Dann kommt es von selbst. Ganz unverhofft.