Die NSA-Affäre hat die Menschen weltweit erschüttert. Die Überwachbarkeit digitaler Kommunikation ist allumfassend; die Illusion, man könne sich im Netz sicher bewegen, ist zerstört. Trotzdem vertrauen immer noch Millionen Menschen tagtäglich Suchmaschinen wie Google ihre intimsten Sorgen an. Und so werden dem Netz Fragen gestellt, die häufig nicht mal mit Partnern, Eltern, besten Freunden oder Hausärzten diskutiert werden. In der vermeintlichen Anonymität des Internets fühlen sich viele Nutzer immer noch sicher - und hoffen, dort die Antworten auf die großen Problematiken des Lebens zu finden. Das trifft auch auf Eltern zu.
Wer Kinder hat, wünscht sich - heute vielleicht mehr als jemals zuvor -, dass sich der Nachwuchs optimal entwickelt. Damit die Sprösslinge später in der Leistungsgesellschaft eine Chance haben. Darum wird jede Auffälligkeit begutachtet, jede Schwäche sofort versucht zu therapieren. Hinzu kommt, dass übereifrige Eltern mit Informationen aus Ratgebern, Webseiten und Zeitungen zur Kindererziehung und -entwicklung überschüttet werden - und häufig verwirrt zurückbleiben. Und da kommt Google in Spiel, die allwissende Maschine.
"Ist meine Tochter übergewichtig?"
Eine von New York Times-Autor und Wissenschaftler Seth Stephens-Davidowitz aufbereite Google-Statistik entlarvt nun, dass ein Großteil der amerikanischen Eltern noch immer in geschlechtstypischen Rollenklischees gefangen ist, wonach es bei Mädchen auf das Aussehen und bei Jungen auf die Intelligenz ankommt. Wie sonst ließen sich die Ergebnisse der Auswertung erklären, dass fast doppelt so häufig die Frage "Ist meine Tochter übergewichtig?" wie "Ist mein Sohn übergewichtig?" in Googles Suchfenster eingetippt wird. Noch entlarvender: Sogar mehr als doppelt so häufig wird im Netz nach der eventuellen Hochbegabung des Sohnes gefragt als nach der der Tochter. Was sagt das über die amerikanische Durchschnittsgesellschaft aus? Sie will offenbar ihre Söhne schlau und ihre Töchter dünn.
Glücklicherweise bietet die amerikanische Realität ein anderes Bild als die Auswertung der Google-Ergebnisse. So werden in den USA elf Prozent mehr Schülerinnen in Hochbegabten-Programmen gefördert als Schüler. Auch der Anteil der übergewichtigen Mädchen ist niedriger als der Anteil der Jungen mit Gewichtsproblemen. Und mit Hillary Clinton könnte 2016 das erste Mal in Amerikas Geschichte eine Frau Präsidentin der USA werden. Dennoch: Wer sich die von Harvard-Absolvent Stephens-Davidowitz recherchierten Ergebnisse anschaut, gewinnt den Eindruck, die googelnden Eltern - nach Müttern und Vätern wird leider nicht unterschieden - seien gedanklich in den 50er Jahren stecken geblieben.
Immer noch quälen sie sich täglich mit Gedanken über die Attraktivität ihrer Töchter. So werden überdurchschnittlich viele Anfragen vom Typ "Ist meine Tochter hässlich?" bzw. "Ist meine Tochter schön?" gestellt. Im Gegensatz dazu, dass bezüglich der Entwicklung von Jungen die drängendsten Fragen der Eltern "Ist mein Sohn ein Genie?" und "Ist mein Sohn eine Führungspersönlichkeit?" zu sein scheinen.
Das Internet, vielgerühmter Hort der Freiheit und des Fortschritts, ist auch ein Ort, an dem Freiheit und gesellschaftlicher Fortschritt klammheimlich mit Füßen getreten werden können. Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Google kann das, wenn eben diese Gedanken in die Suchmaske eingetippt werden.
Töchter für Australien, Neuseeland und Großbritannien
Google-Trends ist zwar kein offizielles statistisches Werkzeug, kann jedoch, wenn ausreichend Suchanfragen zu einer Thematik gestellt wurden, zumindest für seine Nutzer eine verlässliche Tendenz abbilden. Für Deutschland lassen sich - auch wegen geringerer Anzahl der Anfragen - hinsichtlich der amerikanischen Ergebnisse keine vergleichbaren Werte öffentlich abrufen. Google selbst hat die Daten natürlich, gibt sie jedoch nur für vom Unternehmen ausgewählte Schwerpunkte heraus. Was jedoch sehr wohl für Deutschland festgestellt werden kann ist, dass häufiger nach "übergewichtigen Kindern" gegoogelt wird, als nach "untergewichtigen Kindern".
Was die von Stephens-Davidowitz ausgewerteten Daten ebenfalls mit Deutlichkeit zeigen ist, dass Pakistan, Indien und den Vereinigten Arabischen Emiraten Paare besonders häufig im Netz nach Tipps und Tricks recherchieren, wie man männlichen Nachwuchs zeugt. In Australien, Neuseeland und Großbritannien wird hingegen häufiger nach Anweisungen gesucht, wie man ein Mädchen bekommt.
Linktipp: Seth Stephens-Davidowitz erklärt in dieser wissenschaftlichen Abhandlung, wie er mit einem speziellen Algorithmus Google-Trends auswertet und so Daten findet, die mithilfe der gängigen Suche nicht gefunden werden können (S. 47).