Süddeutsche Zeitung

Stricken ist Trend:Die neue Wolllust

Volle Handarbeitskurse, heiße Nadeln im Café und ,,Sockenrausch''-Foren im Internet - Deutschland entdeckt das Stricken wieder.

Judith Aretz

"Hier hab ich drei Mal abgekettelt"' - "Du musst eine zunehmen, dann passt's"' - "Käppchen-Ferse? Nee, ich mach Bumerang." Unkundige verstehen nichts bei solchen Dialogfetzen, die an einem Samstagnachmittag im Berliner Opernpalais zu hören sind. Zwei große Tische, hastig zusammengeschoben, dazu Kaffee, Kuchen und Berge von Wolle. Drumherum viele Frauen und wenige Männer. Sie alle verbindet ein Hobby - sie würden es Leidenschaft nennen: Stricken.

Stricken? Kommt darauf an. Fusselgarne, schreiende Farben, sackartige Modelle und großflächige Intarsienstrickereien, das war vor 20 Jahren. Sie hinterließen eine Massentraumatisierung, flächendeckend wurde "selbstgestrickt" zum Schimpfwort. Die bis dato Strickwütigen legten Nadel und Faden schnell beiseite. Und kurz danach ging das Wollgeschäfte-Sterben los.

Jetzt jedoch erlebt man eine durchschlagende Strick-Renaissance, weit weg von Tante Friedas kratzigen Knubbelsocken und den Öko-Pullis der Anti-Atomkraft-Bewegung.

Wolle auspacken und abschalten

Der moderne Stricker ist weiblich, knapp über 25, sitzt werktags im Loft-Büro, trinkt am Wochenende Caipis und macht am Sonntag einen Ausflug mit den Kindern. Und gestrickt wird alles, was drunter und drüber getragen werden kann, vom Tanga bis zur klassischen Bommelmütze - eine Weimarer Kunststudentin, so hört man, soll sogar Tapeten für die Großstadtwohnung stricken.

Davon weiß Bianka Hermann, Verkäuferin im Wollladen "Loops" am Prenzlauer Berg, zwar nichts, sie freut sich aber über den gewachsenen Kundenkreis. "Sehr viele junge Frauen kommen mit ihren Babykutschen und wollen die Kleinen bestricken. Aber unsere Kundschaft reicht mittlerweile von Vorschülern bis zum Rentner. Und alle Strickkurse, die wir anbieten, sind in null Komma nix ausgebucht."

Noch ist die Bewegung etwas zaghaft - kein Wunder, dass die Anhänger ein wenig kollektiven Rückhalt und gegenseitige Bestätigung brauchten. Darum wird auch besonders gerne gemeinsam mit den Nadeln geklappert.

Erstes Stricker-Treffen in Berlin

In der Hauptstadt findet man sich dazu bei einem der ersten öffentlichen Stricker-Treffen ein, etwa im altehrwürdigen Palais Unter den Linden.

Hier werden Muster getauscht, exotische Garne bewundert, die Erfahrenen leisten Hilfe bei komplizierten Techniken. Ein Großteil der Gespräche ist streng fachlicher Natur. Trotzdem wirkt hier keiner angestrengt. "Stricken entspannt", sagt Sabine Dahlhausen.

Sie hat das Stricken gerade wiederentdeckt. "In meiner Jugend gab es ja schon mal so einen Strickboom - da war ich 16 und Feuer und Flamme für die weiten, langen Pullover, mit Fledermausärmel, grrrrr..." Dann war plötzlich Schluss damit, Langeweile kam auf. "Jetzt schalte ich beim Stricken ab von meinem Job."

Den Stricktreff hat sie, wie die meisten anderen, durch das Internet ausgekundschaftet. Eine riesige Gemeinde tauscht sich dort aus: In vielen hundert Weblogs berichten hingebungsvolle Handarbeiterinnen von ihrem "Sockenrausch", neuen Bestelloptionen bester englischer Wolle, von Nadeln aus Galalith. Und sie suchen nach Anleitungen. Für einen Herzwärmflaschen-Überzug ebenso wie für fingerlose Handschuhe mit Käppchen.

Strickboom durch das Internet

"Das Web hat den neuerlichen Strickboom unwahrscheinlich befördert", da ist sich Olaf Schabert sicher. Der an diesem Nachmittag einzige Mann in der Strickrunde war einer der Vorreiter des Opernpalais-Stricktreffs. "Zu Beginn waren wir zu dritt, seitdem kommen jedes Mal mehr Leute dazu."

Er strickt seit zwei Jahren und bringt seine Begeisterung für die Handarbeit aus Männersicht so auf den Punkt: "Aus einem durchgehenden Faden etwas Komplexes herzustellen, finde ich faszinierend."

Mit Strickgarn werden auch normalerweise nutzlose Zeitspannen sinnvoll überbrückt. "Man produziert ständig etwas, immer geht es voran. Und dabei werden Geist und Körper entlastet, wie autogenes Training", erklärt Dagmar Reinschmidt.

Sogar die Wissenschaft beschäftigt sich mit dem Phänomen: Forscher der Harvard Medical School (USA) haben bestätigt, dass das monotone rhythmische Klackern der Nadeln ebenso erholsam ist wie Yoga: Es baut Stress ab und ist wirksam gegen Bluthochdruck.

Und macht Stricken süchtig? Die Anwesenden nicken heftig. "Das ist ein bisschen wie beim Krimilesen. Gerade kurz vor dem Ende kann man das Buch einfach nicht zur Seite legen. Genauso sage ich oft: Eine Reihe noch, und dann noch eine..." Kathrin Hahn strickt seit einem Jahr, angestachelt von der Mutter, und bezeichnet sich selbst als "voll infiziert". "Es ist auch der Reiz des Unikats, das man schafft - trotz Strickmuster. Jedes Stück hat eine persönliche Note".

Szenetreffpunkt Strickcafé

Ortswechsel, das Strickcafé "Janja" in Pankow. Hier ist es schummriger, gemütlicher, weniger erstaunte Blicke fallen auf die zahlreichen Gäste mit Nadeln in der Hand.

Die meisten hier kennen sich nur über das gemeinsame Hobby. Ute Novakovic, die Mitbesitzerin des "Janja", unterscheidet bei ihren Gästen zwei Stricktypen: "Der eine sieht eine Vorlage, will das sofort umsetzen und vorzeigen. Der andere Typ ist der UFO-Produzent" - der Erschaffer UnFertiger Objekte.

Er strickt, weil er schöne Wolle entdeckt hat und was ausprobieren will, hält aber selten bis zum Ende durch. Die neueste Masche in der ist das Gruppenstricken: Alle stürzen sich auf ein bestimmtes Modell oder dasselbe Garn und legen los.

Aber ist das alles nicht doch nur ein vorübergehendes Phänomen - ausgelöst durch die mit Strickzeug gesichtete Madonna oder Julia Roberts? Empörtes Kopfschütteln. "Promi-Trend, so'n Quatsch!" Die englische Strickszene ist Vorreiter auf dem Gebiet ausgefallener Stoffe und Schnitte.

Die Briten sind auch die Pioniere des öffentlichen Strickens, ohne Scham sitzen sie in den zu Dutzenden aus dem Boden geschossenen Strickclubs, in Museen, im Bus, im Park. So kann es gehen, wenn die biedere "Handarbeit" zum hippen "Lifestyle" umgedeutet wird. Warten wir ab, wann das Häkeln drankommt.

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Quelle:
SZ vom 10.1.07
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