Stress im Alltag:Die unterschätzte Belastung

Es gehört fast schon zum guten Ton, "gestresst" zu sein. Warum man diesen körperlichen Ausnahmezustand nicht unterschätzen sollte, erklärt eine Psychologin.

Mirja Kuckuk

sueddeutsche.de: Sie sind schwer zu erreichen. Sind Sie gerade im Stress?

Stress im Alltag: Burn-out: Wenn man vor lauter Stress nichts mehr tun kann. So weit muss es nicht kommen, sagt die Psychologin Monika Bullinger.

Burn-out: Wenn man vor lauter Stress nichts mehr tun kann. So weit muss es nicht kommen, sagt die Psychologin Monika Bullinger.

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Monika Bullinger: Ach, das bin ich eigentlich immer. Allerdings in dem Sinne, dass ich aktiv bin, von Termin zu Termin laufe und viele Dinge gleichzeitig erledige. Aber dass es unangenehm wird, kommt eher selten vor.

sueddeutsche.de: Heutzutage sind ja alle irgendwie "im Stress". Aber was bedeutet das überhaupt?

Bullinger: In der modernen Stressforschung unterscheiden wir - dem Gründer Hans Selye folgend - zwischen gutem und schlechtem Stress. In beiden Fällen wird eine körperliche Reaktion ausgelöst, die entweder positiv oder negativ bewertet wird. Stress entsteht, wenn ein Gleichgewicht aus der Balance gerät, weil man mehr Dinge erledigen muss, als man zu tun in der Lage ist. Es handelt sich also um die Diskrepanz zwischen Anforderungen und Reaktionsmöglichkeiten. Allerdings benutzen wir das Wort "Stress" mittlerweile viel zu allgemein. Es sollte differenziert werden zwischen den Stressoren - den Reizen, die Stress auslösen, - und den Stressreaktionen.

sueddeutsche.de: Was versetzt uns denn in Stress?

Bullinger: Die wichtigsten Reize sind sogenannte Leistungsstressoren - Prüfungen, wichtige Verhandlungen, Vorträge, die wir halten müssen. Zusätzlich sind wir sozialen Stressoren ausgesetzt, die dazu führen, dass wir uns in einer sozialen Situation unwohl fühlen. Zum Beispiel, wenn wir das Gefühl haben, zu einer Gruppe nicht dazuzugehören, oder wenn mit Kollegen oder in der Familie Probleme auftreten. Die dritte Gruppe von Stressoren sind unvorhersehbare Ereignisse. Sie können einen überwältigen, sprachlos und handlungsunfähig machen. Besonders schlimm wirken sich die unkontrollierbaren aus: Todesfälle und Krankheiten. Der Mensch weiß nicht, wie er diese Situationen, in die er hineingeschleudert wurde, überhaupt wahrnehmen und wie er darauf reagieren soll. Nicht zu unterschätzen sind auch die vielen physikalischen Einflüsse: permanente Lärmbelästigung, Hitze- und Kältestress.

sueddeutsche.de: Und wie reagieren wir auf all diese Reize?

Bullinger: Sowohl mit unserem Körper als auch mit unserem Verhalten. Die körperliche Reaktion ist angeboren: Stress ist - stammesgeschichtlich betrachtet - dazu da, uns fit zu machen für den Kampf oder die Flucht. Unser Blutdruck steigt, der Herzschlag und die Atmung werden schneller. Diese biochemischen Mechanismen machen es uns möglich, dass wir in Gefahrensituationen nicht einfach nur perplex sind und "gefressen" werden beziehungsweise handlungsunfähig sind.

sueddeutsche.de: Aber läuft diese Reaktion in unserer heutigen Zeit nicht oft ins Leere? Wir können ja nicht ständig wegrennen ...

Bullinger: Ja, es gibt tatsächlich wenig, wogegen man im ursprünglichen Sinne kämpfen oder wovor man flüchten kann. Man muss der Reaktion standhalten. Die Widerstandsreaktion an sich ist lebenswichtig, aber wenn man sie nicht in eine Handlung umsetzen kann, wird das Stressempfinden unangenehm. Die Folgen sind Unwohlsein, Ängstlichkeit oder - wenn die Überforderung zu groß wird - Traurigkeit. Der Gestresste gleitet oft in gesundheitsschädigende Verhaltensweisen ab. Der eine greift schneller zur Zigarette, der andere in den Kühlschrank. Neben diesen Verhaltensänderungen können auch kognitive Schwierigkeiten auftreten: Konzentrationsschwäche oder Vergesslichkeit, die Leistungsfähigkeit nimmt ab.

sueddeutsche.de: Warum wird der eine hektisch, wenn fünf Telefone gleichzeitig klingeln, der andere nimmt es aber problemlos mit sechs Apparaten auf?

Bullinger: Das hängt unter anderem mit den persönlichen Erfahrungen zusammen, die man bereits mit Stress gemacht hat und inwieweit man aus ihnen gelernt hat. Wer sich offensiv mit dem Thema Stressoren auseinandersetzt, kann sich Möglichkeiten schaffen, belastende Situationen besser zu kontrollieren. Außerdem hängt es natürlich mit der Persönlichkeit zusammen. Es gibt extrovertierte, dramatisch veranlagte Menschen und introvertierte, ruhige. Die einen brausen eher auf, die anderen behalten ihre Befindlichkeit für sich.

Auf der nächsten Seite: Wie man sich gegen die Stressoren wehren kann.

Die unterschätzte Belastung

sueddeutsche.de: Wie kann man sich denn gegen die Stressoren wehren?

Stress im Alltag: Prof. Dr. Monika Bullinger arbeitet und lehrt am Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.

Prof. Dr. Monika Bullinger arbeitet und lehrt am Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.

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Bullinger: Zuerst einmal muss man sich selbst kennenlernen und beobachten. Man sollte sich abends Zeit nehmen und rekapitulieren, wie ein Tag oder eine Woche verlaufen ist und welche Faktoren Stress ausgelöst haben. Schreiben Sie auf, was gut lief und was Sie belastet hat. Lassen sich daraus Muster erkennen, aus denen Stresssituationen entstehen, kann man sich leichter Strategien überlegen. Man kann entweder die Verhältnisse verändern oder seine eigene Einstellung. Konkret heißt das: Will man an der Situation selbst etwas ändern, muss man sein Arbeitspensum so gestalten, dass man abends zufrieden auf sein Tagwerk blicken kann. Das kann bedeuten, dass einige Punkte von der To-do-Liste gestrichen werden müssen oder man mit Kollegen über eine andere Arbeitsaufteilung spricht.

sueddeutsche.de: Und wenn das nicht möglich ist? Wie ändere ich meine Einstellung?

Bullinger: Man sollte subjektiv betrachten, was man sich eigentlich zumutet und was man sich tatsächlich zumuten kann. Jeder durchlebt unterschiedliche Phasen von Leistungsfähigkeit. In schwächeren Phasen sollte man Dinge erledigen, die einen körperlich und intellektuell nicht so fordern. Außerdem ist ein täglicher Ausgleich wichtig: sei es eine schöne Unternehmung am Abend oder mittags das Essen mit netten Kollegen in der Kantine.

sueddeutsche.de: Was kann passieren, wenn wir den Stress in uns "hineinfressen"?

Bullinger: Im schlimmsten Fall kann es zu Organschädigungen führen - Herz-Kreislauf-Probleme, bis hin zum Schlaganfall und Herzinfarkt. Psychisch kann es zur "Dekompensation" führen, das heißt die gesamte Organisation der Person, ihre Persönlichkeit und ihre Verhaltensweisen können zusammenbrechen. Im Volksmund spricht man vom "Nervenzusammenbruch". Diese extreme Situation kann eintreten, wenn das Bombardement durch Stressoren zu einer chronischen Überreizung führt. Dabei müssen die Stressfaktoren nicht einmal dramatisch sein, sie können niedrigschwellig, für die Außenwelt nicht unbedingt wahrnehmbar sein. Der Betroffene ist psychisch genervt, launisch, hochfahrend und verhält sich oft ungerecht.

sueddeutsche.de: Diese Aggressivität signalisiert also die Kampfbereitschaft?

Bullinger: Ja, denn die Person fühlt sich ständiger Berieselung ausgesetzt und verfällt dadurch in eine permanente Verteidigungshaltung. Aber nicht jeder setzt die Stressreaktion in Angriffslust um. Angst kann eine weitere Folge sein oder aber scheinbare Gleichgültigkeit. Dieser Schutzmechanismus setzt ein, wenn die Person das Gefühl hat, sich abschotten zu müssen, weil sie die Reize sonst nicht mehr aushält. Das Ganze kann sich bis zur Depression und dem Burn-out-Syndrom steigern.

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Die unterschätzte Belastung

Stress im Alltag: Die Psychologin rät: "Schreiben Sie auf, was am Tag gut lief und was Sie belastet hat."

Die Psychologin rät: "Schreiben Sie auf, was am Tag gut lief und was Sie belastet hat."

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sueddeutsche.de: Wo liegt die Schwelle zwischen Dauerstress und dem Burn-out-Syndrom?

Bullinger: Das Burn-out-Syndrom ist eine chronische Überlastung am Arbeitsplatz, befördert durch mangelnde Gratifikation - sei es unangemessene Bezahlung oder fehlendes Lob für den Einsatz. Der Betroffene ist am Ende so gestresst, dass er nicht mehr in der Lage ist, zur Arbeit zu gehen. Die Stufen dorthin sind durchaus wahrnehmbar und zu durchbrechen.

sueddeutsche.de: Es heißt doch immer, wir würden in einer Ellenbogengesellschaft leben. Denken wir etwa nicht genug an uns selbst?

Bullinger: Es gibt den Begriff der "neuen Achtsamkeit". Sprich: mehr auf sich zu achten. Das hat nichts mit purem Egoismus und "Hoppla, hier komm ich"-Denken zu tun. Sondern es geht um eine wichtige Einstellung, die der Stressbewältigung vorangehen muss. Ehe man Strukturen verändern kann, muss man begreifen, dass man nicht immer der Beste oder die Schnellste sein muss. Der Begriff kommt aus der asiatischen Meditation, in der es darum geht, sich und seine Umgebung bewusst wahrzunehmen. Nur so kann man verstehen, wie man in bestimmten Situationen reagiert.

sueddeutsche.de: Nehmen wir die nervliche Belastung nicht ernst genug?

Bullinger: Auffällig ist, dass dieses "Ich bin im Stress" in aller Munde ist. Es gehört fast schon zum guten Ton, zu wiederholen, dass man nicht unterbeschäftigt, sondern wichtig sei und viel zu tun habe. Auf diese Weise erhält der Begriff Stress aber positive Konnotationen. Das Problem: Es wird nicht mehr unterschieden zwischen dem anregenden Gefühl, hin und wieder etwas aus der Puste zu sein, wenn viele Aufgaben gleichzeitig auftreten, und dem permanten negativen Gefühl, das entsteht, wenn keine Erfolgserlebnisse am Ende der Stressreaktion stehen. Es wird unterschätzt, dass dieser nicht zu bewältigende Stress ein Gesundheitsrisiko darstellt.

sueddeutsche.de: Gilt das für alle Berufsgruppen, für Alt und Jung?

Bullinger: Es hängt von der Arbeit selbst ab und dem Umfeld, in dem sie verrichtet wird. Ein Unternehmensberater ist mehr Stressoren ausgesetzt als jemand, der in seinem stillen Kämmerlein kreativ arbeitet. Es hängt davon ab, ob immer alles schnelllebig und pulsierend sein muss oder ob man ausreichend Zeit hat, Aufgaben zu bewältigen. Vom Alter ist das nicht generell abhängig. Natürlich ist ein jugendlicher Körper weniger anfällig. Aber auch junge Menschen können - vor allem wenn sie zusätzlich trinken und rauchen - Herzinfarkte oder Schlaganfälle erleiden. Das sollte niemand unterschätzen.

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