Streit um Berliner Seniorentreff:Solche Hausbesetzer hat die Welt noch nicht gesehen

"Ich musste mich richtig überwinden dazu": In Berlin-Pankow soll aus Kostengründen ein beliebter Seniorentreff geschlossen werden. Doch die Stadtverantwortlichen haben die Rechnung ohne die Rentner gemacht. Die halten die Villa Kunterbunt aus Protest besetzt. Ein Besuch.

Thorsten Schmitz, Berlin

Noch nie in ihrem Leben hat Renate Kelling ein Haus besetzt, in dieser Woche war es das erste Mal. Sie ist 77 Jahre alt. Wie sie geschlafen hat? "Sehr unruhig, und mit einer Schlaftablette." Die Geräusche, das Zimmer, die anderen Hausbesetzer, das alles war sehr ungewohnt für sie. "Ich musste mich richtig überwinden dazu." Sie hat sich dann zwei Liegen von zu Hause mitgenommen, sicher ist sicher.

Rentner gehen unter die Hausbesetzer

"Wir bleiben alle!": In Berlin-Pankow soll aus Kostengründen ein Seniorentreff geschlossen werden - doch die Betroffenen wehren sich.

(Foto: dpa)

In ihrer freien Zeit treibt Kelling mit anderen Senioren Sport, vor allem Dehnungsübungen. Arme werden dann nach oben gestreckt, nach rechts und links gedreht, es wird auf die Atmung geachtet. In der DDR war sie Lehrerin für Mathematik und Technisches Zeichnen, ein Fach, das nach der Wende abgeschafft wurde. Der Sport tut ihr gut. Sie wirkt zehn Jahre jünger, durchtrainiert, sie ist braun gebrannt, an ihrem Hals hängt ein rosa Jadestein.

Eigentlich ist sie ein fröhlicher Mensch. Doch jetzt, an diesem späten Mittwochnachmittag, hat sie "Wut im Bauch, um ehrlich zu sein". Sie sagt: "Wir kommen ja aus der DDR, da ging nicht alles ums Geld." Eben gerade hat sie sich für ihre zweite Nacht im besetzten Haus verpflichtet. Brigitte Klotsche, eine ehemalige Kita-Chefin, organisiert die Übernachtungen und fragt noch einmal nach: "Also, dann trage ich dich für Sonntag ein, ist dir das recht?" Frau Kelling nickt. Sie möchte, dass die anderen auch mal wieder zu Hause schlafen und duschen können.

Energiesparhäuser und schicke Bungalows mit manikürten Gärten

Pankow, Stille Straße 10. Früher hat in dieser Villa die Familie von Erich Mielke gelebt, dann zog die Stasi ein, eine Abteilung, die den "Transitstraßenverkehr" kontrolliert hat. Um die Ecke, am Majakowskiring, hat der Rest der DDR-Elite gewohnt, die Ulbrichts etwa. Heute wohnen in diesem Winkel von Pankow vor allem Familien, die sich Energiesparhäuser und schicke Bungalows leisten können, mit manikürten Gärten und Tennisplatz und dunklen Limousinen vor den Garageneinfahrten.

Inmitten des neuen Reichtums steht das schlammbraune Haus. Es versteckt sich hinter zwei riesigen Tannen, als schämte es sich für seinen DDR-Spritzputz. Das Haus trotzt der neuen Zeit, und die neue Zeit ist, dass Immobilienmakler scharf sind auf das Gelände. Einer aus Pankow sagt: "Das Gelände ist ein Schatz."

300 Senioren treffen sich seit 14 Jahren in dieser Villa Kunterbunt, die ihr Schatz geworden ist. 39 Gruppen gibt es hier, in ihnen wird Spanisch gelernt, Canasta und Bridge gespielt, gesungen. Computerkurse gibt es und im Keller die Turnübungen von Frau Killing. Der Keller ist seit ein paar Tagen allerdings nicht mehr zugänglich, der Hausmeister hat die Schlösser ausgewechselt. Am Donnerstag hat Frau Killing deshalb in einem der oberen Klubräume unterrichtet.

Das Bezirksamt von Pankow will den Lebensort der rüstigen Rentner einsparen, es geht um 60.000 Euro jährlich. Die lukrative Liegenschaft soll verkauft oder verpachtet werden. Den Senioren hat man angeboten, ihre Gruppen in anderen Einrichtungen unterzubringen. Mit dem Zorn der Rentner indes hat Vize-Bürgermeister Jens-Holger Kirchner von den Grünen nicht gerechnet: "Dass Senioren ein Haus besetzen, ist für uns neu."

Viele Leute kommen vorbei, und wollen helfen. Eine junge Frau zum Beispiel, die mit ihrem Hund spazieren geht, fragt: "Brauchen Sie etwas zu essen?" Eine 47 Jahre alte Mutter hat eine E-Mail geschickt: "Ich verstehe Ihre Wut, ich werde ja auch einmal Rentnerin und bin dann froh über einen Ort zur gemeinsamen Freizeitgestaltung. Sie alle haben meine volle Hochachtung." Und ein anderer hat ein Gedicht von Erich Fried ins Gästebuch geschrieben: "Wenn viele kleine Leute an vielen kleinen Orten viele kleine Dinge ändern, können sie das Gesicht der Welt verändern."

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