Streicheleinheiten im Altersheim:Die Kunst der Berührung

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"Ri-Man" oder "Care-o-Bot" - menschliches Pflegepersonal könnte schon in wenigen Jahren durch Maschinen ersetzt werden. Dabei ist menschliche Nähe lebenswichtig.

Ann-Christin Gertzen

Zu viele Patienten, zu wenig Zeit oder mangelndes Interesse: Obwohl die meisten Pfleger im richtigen Berühren geschult sind, erfahren alte Menschen oft zu wenig Nähe. Ansgar Schürenberg ist Krankenpfleger und Pflegewissenschaftler. Der 48-Jährige hat ein Buch zum Thema "Basale Stimulation in der Altenpflege" verfasst - zur Kunst der guten Berührung.

"Ri-Man" ist der Name eines japanischen Pflegeroboters. Seit 2006 wird der Prototyp ständig weiterentwickelt. Die menschliche Pflege wird er wohl trotzdem nie ganz ersetzen können. (Foto: Foto: AFP)

sueddeutsche.de: Warum ist es wichtig, Menschen zu berühren?

Ansgar Schürenberg: In der Altenpflege läuft ganz viel über Berührung. Ob beim Essen, Umbetten oder Ankleiden, der Pfleger und die alten Menschen kommen ständig miteinander in Berührung. Diese alltäglichen Situationen versuchen wir für intensive Berührungen zu nutzen. Momente der Nähe, die eine Beziehung zwischen den beiden zulassen. Wir nennen diese Art der Berührungstherapie "Basale Stimulation". Alten und demenzkranken Menschen, die in ihrer Kommunikations- und Bewegungsfähigkeit stark beeinträchtigt sind, bieten wir so die Möglichkeit, ihre Umwelt und vor allem die Personen um sie herum besser wahrzunehmen.

sueddeutsche.de: Gibt es denn unterschiedliche Formen der Berührung?

Schürenberg: Es gibt funktionale oder informative Berührungen. Die klassische Pflege ist funktional. Das heißt, ich drehe jemanden zur Seite, damit er sich nicht wundliegt. Bei der Basalen Stimulation versuchen wir, die Bewegung so zu gestalten, dass derjenige spüren kann, was da passiert. Dass da jemand ist, der ihn anspricht. Gerade für sprachlich beeinträchtigte Menschen ist es wichtig, den Sinn der Berührung begreifen, erst dann wird sie für ihn angenehm.

sueddeutsche.de: Wie merken Sie, dass der Patient die Berührung versteht?

Schürenberg: Indem er zum Beispiel nicht schreckhaft reagiert, keine Abwehr zeigt, sich nicht steif macht. Ich merke es vor allem an der Körperspannung.

sueddeutsche.de: Lassen sich alle Menschen gerne berühren?

Schürenberg: Berührungen werden von Mensch zu Mensch unterschiedlich empfunden. Es gibt berührungsempfindliche Menschen, zu denen ich erst mal Augenkontakt aufnehmen muss. Häufig sind das vor allem krebskranke Menschen, mit Metastasen. Punktuell kleinflächige Berührungen finden sie meist schmerzhaft.

sueddeutsche.de: Man kann also viel falsch machen bei der Berührung?

Schürenberg: Viele Pfleger sind sehr vorsichtig und wollen dem Patienten keine Schmerzen zufügen. Deshalb machen sie eher punktuelle Berührungen. Die haben aber wahrnehmungsphysiologisch den Nachteil, dass derjenige, der berührt wird, sofort auf Abwehrhaltung schaltet.

sueddeutsche.de: Warum?

Schürenberg: Wenn ich zum Beispiel mit meiner Partnerin auf der Couch liege und sie mir leicht über die Stirn streicht, empfinde ich das als angenehm. Wenn ich im dunklen Keller bin und von etwas an der Stirn gestreift werde, ist das eine riesige Schrecksituation. Obwohl die Berührung exakt die gleiche sein kann. Genau dieses Problem haben Demenzkranke. Da kommt eine Berührung, die vielleicht auch liebevoll gemeint ist, aber für sie völlig zusammenhangslos ist.

sueddeutsche.de: Wie sollten Berührungen sein?

Schürenberg: Sehr großflächig und ansprechend. Der Patient soll merken: Der Pfleger ist da und möchte etwas für ihn tun. Erst, wenn diese Verbindung hergestellt ist, beginne ich mit meinem Vorhaben. Wenn ich mit jemandem ein Gespräch führe, kommt ja auch zuerst ein Handschlag als Begrüßung. Der signalisiert: Ich reiche dir meine offene Hand, in der sich keine Waffen oder Ähnliches befinden. Bei der Pflege sollte es genauso sein. Eine Berührung signalisiert den Anfang und, wie bei einem guten Gespräch, taucht sie auch am Ende wieder auf. Dadurch lernt der Patient, sich auf etwas einzustellen und vorzubereiten.

sueddeutsche.de: In Altenheimen hat man oft das Gefühl, dass die Menschen nur noch mit Gummihandschuhen angefasst werden. Der Patient wird schnell eingecremt und dann geht's weiter zum Nächsten. Mangels Respekt?

Schürenberg: Viele Pfleger behaupten, sie hätten keine Zeit für intensive Pflege. Zu viele Patienten müssten versorgt werden, als dass man sich noch um jeden Einzelnen kümmern könne. Dabei reichen schon fünf Minuten aus, um dem Patienten eine intensive Berührung zu schenken, und ihm zu zeigen, dass man nicht schon gedanklich zwei Zimmer weiter ist. Das ist für den Pfleger schließlich auch angenehmer.

Auf der nächsten Seite: Wie Pflegeroboter den Menschen ersetzen sollen.

sueddeutsche.de: Ihnen als Pfleger hilft die Berührungstherapie also auch?

Ansgar Schürenberg berührt alte Menschen - und bietet ihnen damit oft die letzte Chance, menschliche Nähe zu erfahren. (Foto: Foto: Privat)

Schürenberg: Die Streicheleinheiten und Massagen helfen mir, mich voll auf den Patienten zu konzentrieren. Indem ich mich auf die Berührung einlasse, spüre ich etwas von dem Menschen, und auch er merkt, dass ich bei ihm bin. Wenn man das richtig macht, kann man auch die Handschuhe anlassen.

sueddeutsche.de: Warum wird Basale Stimulation dann trotzdem so selten praktiziert?

Schürenberg: Geschult sind viele Pfleger. Das Konzept steht inzwischen in jedem Lehrbuch. Aber die Umsetzung ist schwierig. Viele denken, bevor sie dem Patienten eine kurze schöne Berührung schenken und er sich in dem Moment daran gewöhnt, sie ihm diese Freude dann aber wieder nehmen, treffe ihn die Grausamkeit danach umso härter. Deshalb verzichten sie lieber ganz darauf.

sueddeutsche.de: Das ist aber ein fadenscheiniger Grund.

Schürenberg: Natürlich. Keiner von uns würde auf den Urlaub verzichten, nur weil er weiß, dass nach dem Urlaub alles wieder von vorne losgeht. Schließlich kann jeder Kurzurlaub zur Erholung beitragen und helfen, für längere Zeit mit weniger schönen Situationen klarzukommen. So ist es auch mit kurzen, intensiven Berührungen.

sueddeutsche.de: Wovor haben die Pfleger Angst?

Schürenberg: Vor allem junge Altenpfleger können nicht gut mit Berührungen umgehen. Dazu kommt auch die Vorstellung: Je mehr ich mich auf den anderen einlasse, desto trauriger wird der Abschied, wenn ein Patient stirbt. Dabei ist es oft viel schlimmer, wenn man dem Sterbenden diese Beziehung verweigert hat. Bei alten Menschen kommt es in den seltensten Fällen vor, dass sie nicht sterben möchten. Das müsste den Pflegern den Abschied eigentlich leichter machen.

sueddeutsche.de: Vielleicht müssen sie sich schon in ein paar Jahren gar nicht mehr mit solchen Fragen beschäftigen, wenn tatsächlich Roboter zur Pflege eingesetzt werden.

Schürenberg: In Japan wurden ja bereits einige dieser Pflegeroboter getestet. Da das Land ohnehin sehr technikfanatisch ist, mag das für einige Menschen in bestimmten Bereichen wie Haushalt oder Bad sogar ganz hilfreich sein. Doch für wahrnehmungsgestörte und demenzkranke Menschen, für die menschlicher Kontakt plötzlich mehr denn je eine Rolle spielt, ist es eine Katastrophe, wenn sie keine menschliche Berührung mehr erfahren. Sobald es um Körperpflege und Berührung geht, sind Roboter grausam.

sueddeutsche.de: Es gibt auch Streicheltherapien mit Tieren. Ist das nicht nur ein weiterer billiger Ersatz für den Menschen?

Schürenberg: Da gibt es Unterschiede. Wenn die Heimleiterin ihren Hund mitbringt und der einmal durch alle Zimmer läuft, gefällt das vielleicht einigen Bewohnern, effektiv ist es aber nicht. Bei der Therapie mit Tieren sind die Hunde speziell ausgebildet. Sie signalisieren dem Patienten, dass sie für sie da sind. Sie haben ein sehr gutes Gespür dafür, ob derjenige, bei dem sie sich auf den Schoß legen, jemanden braucht oder mit ihm spielen möchte. Geschulte Hunde halten Berührungen aus - auch an Stellen, an denen sie normalerweise instinktiv zubeißen würden. Wenn die Tiere gut trainiert sind, kann das eine sehr positive Art der Berührung für den Menschen sein.

sueddeutsche.de: Also haben Tiere dem Menschen in Sachen Geduld und Nähe sogar etwas voraus?

Schürenberg: In gewisser Weise schon. Wir müssen lernen, anwesend zu sein. Die älteren Menschen müssen wir sehr ernst nehmen und besonders aufmerksam sein für ihre Bedürfnisse. Manchmal sind gar keine großen Aktionen nötig. Es kann schon ausreichen, einen Moment lang die Hand eines Menschen zu halten.

Das Buch "Lebensbegleitung alter Menschen. Basale Stimulation in der Pflege alter Menschen." von Ansgar Schürenberg und Thomas Buchholz erschien im Verlag Hans Huber.

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