Straßenchor in Berlin:Haste Töne

Lesezeit: 4 min

Straßenchor in Berlin: Chorleiter Stefan Schmidt: "Ich bin Künstler, kein Sozialarbeiter."

Chorleiter Stefan Schmidt: "Ich bin Künstler, kein Sozialarbeiter."

(Foto: Steffen Roth)

Alt Micci kommt von der Straße, Bariton Gotthold ist Alkoholiker: In einem Berliner Chor singen Menschen, die aus der Gesellschaft gefallen sind. So gut, dass sie bereits in der Philharmonie auftraten.

Von Verena Mayer, Berlin

Bariton Gotthold ist Alkoholiker, Micci aus dem Alt kommt von der Straße. Solistin Arcana hat so viel Gewalt von Männern hinter sich, dass die Mutter zu ihr sagte: "Du bist an einem Sonntag geboren, hattest aber noch nie Glück im Leben." Was die anderen Chorsänger erzählen, ist nicht besser. Geschichten von Arbeitslosigkeit, Armut, Prostitution. Wobei das gar nicht das Problem des Berliner Straßenchors ist, der gerade für einen Auftritt probt. Das Problem ist, dass viele Sänger irgendwann wegbleiben. Und zwar nicht, weil sie noch weiter abrutschen oder ihren Krankheiten erliegen, so wie Chrissi, die im Heim aufgewachsen war und sich mit HIV infiziert hatte. Sondern, weil sie Arbeit, Freunde, eine Wohnung finden. Einen Sinn im Leben.

Kurfürstenstraße: Hier sind die, die nichts zu sagen haben

Die Kurfürstenstraße, an einem späten Abend. Man sieht das Pflaster kaum im fahlen Licht der Gaslaternen, diese Ecke ist eine der dunkelsten Ecken der Hauptstadt. In jeder Beziehung. Hier verläuft der Straßenstrich, Frauen steigen in Autos, sie sind fast noch Mädchen. An der Ecke, vor dem Gemeindehaus der Zwölf-Apostel-Kirche, stehen Obdachlose für einen Teller Essen an. Es riecht nach Suppe und nach Elend, man sieht offene Beine, zerschlagene Gesichter und vom Heroin starre Augen. Die boomende Metropole ist weit weg an der Kurfürstenstraße. Hier sind diejenigen unterwegs, die nichts zu sagen haben.

Doch einige von ihnen erheben nun in der Mehrzweckhalle des Gemeindehauses ihre Stimmen. Rau und zaghaft erst, dann kommen klare Töne, und irgendwann erfüllt die Melodie von "Stand by Me" dreistimmig den Raum. Jedenfalls bis der Chorleiter abwinkt und ruft: "Viel zu zaghaft! Mehr Eier!" Und so singt der Chor alles noch mal und auch ein drittes, viertes und zehntes Mal, Kunst kommt von Können.

Und der Berliner Straßenchor kann etwas. Seit 2009 gibt es ihn, ursprünglich war er als Projekt gedacht, um Obdachlose einmal die Woche von der Straße zu holen. Dann wurde das Fernsehen auf die Geschichte aufmerksam, und irgendwann sang der Straßenchor in der Berliner Philharmonie. Die "Carmina Burana", Carl Orffs berühmtes Werk von den Säufern, Spielern und dem Schicksal, das es nicht gut mit ihnen meint. Und plötzlich standen Matze, Flöckchen, Lena, Syndrex, Floh, Olli, Cookie und wie sie sich allen nennen, im Licht. Dort sind sie bis heute.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema