Straßenchor in Berlin:Haste Töne

Straßenchor in Berlin: Chorleiter Stefan Schmidt: "Ich bin Künstler, kein Sozialarbeiter."

Chorleiter Stefan Schmidt: "Ich bin Künstler, kein Sozialarbeiter."

(Foto: Steffen Roth)

Alt Micci kommt von der Straße, Bariton Gotthold ist Alkoholiker: In einem Berliner Chor singen Menschen, die aus der Gesellschaft gefallen sind. So gut, dass sie bereits in der Philharmonie auftraten.

Von Verena Mayer, Berlin

Bariton Gotthold ist Alkoholiker, Micci aus dem Alt kommt von der Straße. Solistin Arcana hat so viel Gewalt von Männern hinter sich, dass die Mutter zu ihr sagte: "Du bist an einem Sonntag geboren, hattest aber noch nie Glück im Leben." Was die anderen Chorsänger erzählen, ist nicht besser. Geschichten von Arbeitslosigkeit, Armut, Prostitution. Wobei das gar nicht das Problem des Berliner Straßenchors ist, der gerade für einen Auftritt probt. Das Problem ist, dass viele Sänger irgendwann wegbleiben. Und zwar nicht, weil sie noch weiter abrutschen oder ihren Krankheiten erliegen, so wie Chrissi, die im Heim aufgewachsen war und sich mit HIV infiziert hatte. Sondern, weil sie Arbeit, Freunde, eine Wohnung finden. Einen Sinn im Leben.

Kurfürstenstraße: Hier sind die, die nichts zu sagen haben

Die Kurfürstenstraße, an einem späten Abend. Man sieht das Pflaster kaum im fahlen Licht der Gaslaternen, diese Ecke ist eine der dunkelsten Ecken der Hauptstadt. In jeder Beziehung. Hier verläuft der Straßenstrich, Frauen steigen in Autos, sie sind fast noch Mädchen. An der Ecke, vor dem Gemeindehaus der Zwölf-Apostel-Kirche, stehen Obdachlose für einen Teller Essen an. Es riecht nach Suppe und nach Elend, man sieht offene Beine, zerschlagene Gesichter und vom Heroin starre Augen. Die boomende Metropole ist weit weg an der Kurfürstenstraße. Hier sind diejenigen unterwegs, die nichts zu sagen haben.

Doch einige von ihnen erheben nun in der Mehrzweckhalle des Gemeindehauses ihre Stimmen. Rau und zaghaft erst, dann kommen klare Töne, und irgendwann erfüllt die Melodie von "Stand by Me" dreistimmig den Raum. Jedenfalls bis der Chorleiter abwinkt und ruft: "Viel zu zaghaft! Mehr Eier!" Und so singt der Chor alles noch mal und auch ein drittes, viertes und zehntes Mal, Kunst kommt von Können.

Und der Berliner Straßenchor kann etwas. Seit 2009 gibt es ihn, ursprünglich war er als Projekt gedacht, um Obdachlose einmal die Woche von der Straße zu holen. Dann wurde das Fernsehen auf die Geschichte aufmerksam, und irgendwann sang der Straßenchor in der Berliner Philharmonie. Die "Carmina Burana", Carl Orffs berühmtes Werk von den Säufern, Spielern und dem Schicksal, das es nicht gut mit ihnen meint. Und plötzlich standen Matze, Flöckchen, Lena, Syndrex, Floh, Olli, Cookie und wie sie sich allen nennen, im Licht. Dort sind sie bis heute.

Neue Chance, auch für den Chorleiter

Gotthold etwa, 70, ein kleiner Mann, der viel kichert und wie alle hier nur seinen Vornamen sagen will. Seine Hand steckt in einem dicken schwarzen Verband, das Gesicht ist zerfurcht. Das, was Gotthold erlebt hat, reicht für drei Schicksale. Zu DDR-Zeiten wurde er weggesperrt, weil er den Wehrdienst verweigerte. An die Haft in Bautzen erinnert sich Gotthold noch gut. Sein einziger Trost war der Theatermusiker aus einer Zelle nebenan. Der stellte sich jede Nacht ans Fenster und sang den Gefangenenchor aus "Nabucco", "so lange, bis seine Stimme verstummte". Später wurde Gotthold nach Westdeutschland abgeschoben, der Alkohol trat in sein Leben. Als er wieder mal über den Alexanderplatz stromerte, Berlins Treffpunkt der Verlorenen und Ausgestoßenen, drückte ihm jemand einen Flyer des Straßenchors in die Hand. "Da stand: ,Von der Straße auf die Bühne', und ich dachte: Prostituierte, Drogensüchtige und HIV-Positive - wie wollen die denn singen?"

Straßenchor in Berlin: Der Strassenchor probt im Gemeindehaus der Aopstelkirche.

Der Strassenchor probt im Gemeindehaus der Aopstelkirche.

(Foto: Steffen Roth)

Das fragte sich Chorleiter Stefan Schmidt anfangs auch. Schmidt, muskulöse Arme, laute Stimme, ist Konzertpianist. Er war ganz oben, als er in einem Wettbewerb plötzlich zusammenbrach, das Herz. Schmidt musste seine Karriere beenden, spielte zehn Jahre gar nicht mehr Klavier. Bis er sich eines Tages sagte: "Musik kann man auch mit anderen Leuten machen." Jetzt steht er im Gemeindehaus am Flügel und gibt seinen Chorsängern Anweisungen, die eher Kommandos sind. Schmidt will, dass die Stücke sitzen, "ich bin Künstler, kein Sozialarbeiter". Sein musikalischer Anspruch ist es, der den Straßenchor von anderen Sozialprojekten unterscheidet. Jeder kann hier mitmachen, muss für die Kunst aber auch alles geben.

Die ersten Proben sind schwierig gewesen, sagt Schmidt. Manche Sänger waren von Alkohol und Krankheit so ausgezehrt, dass sie im Sitzen singen mussten. Andere kamen nur wegen der warmen Mahlzeit, die nach dem Singen immer gekocht wird. Es gab oft Streit, und als der Chor einmal in einer Berliner JVA auftrat, kannten sich einige Insassen und Chorsänger bereits. "Aber ich weiß, dass das kein Quatsch ist", sagt Schmidt. "Die meisten Kinder muss man zur Musik zwingen, hier kommen alle freiwillig."

Wie die junge Frau namens Katy, die in hohen Schnürstiefeln dasteht und ihr Solo singen soll. "Schief!", ruft Schmidt und hämmert auf die Tasten des Flügels ein. "Und viel zu leise. Das muss bedrohlicher klingen!" Erst beginnt Katys Stimme zu zittern, dann rennt Katy weinend aus dem Saal. Eine Frau geht Katy hinterher, und Katy singt ihre Zeile noch mal und noch mal, bis Schmidt zufrieden nickt. ",Stand by Me', das heißt, wir stehen hier zusammen, egal, was passiert."

Zwei Leute finden während der Konzertreise eine Arbeit

Und das tut der Straßenchor wenige Tage später dann. Berlin, Prenzlauer Berg. Hier ist alles hell erleuchtet, in einer alten Fabrik findet die Benefiz-Gala Parieté statt. Künstler mit und ohne Behinderung treten auf, die Schauspielerin Eva Mattes läuft über den roten Teppich, und die Moderatorin Marlene Lufen sagt alle fünf Minuten, wie toll die Leute hier aussehen. Die Sänger vom Straßenchor warten in der Garderobe auf ihren Auftritt. Auf dem Tisch stehen Schnittchen, für manche ist es das erste Essen an diesem Tag.

Arcana und Micci, zwei dunkelhaarige Frauen, sitzen kauend zusammen. Beide haben psychische Krankheiten und schlimme Beziehungen hinter sich, Micci hat eine Zeit lang auf der Straße gelebt. Arcana sagt, das Singen sei das Beste für ihren "inneren Drang, alles loszuwerden und nicht daran zu ersticken". Micci sagt, der tollste Moment sei der, wenn man ein Musikstück geschafft hat. "Der Chor ist meine Therapie." Für viele ist er der Beginn eines neuen Lebens. Zwei Leute kamen von einer Konzertreise nicht mehr zurück - sie hatten unterwegs Arbeit gefunden. Und dann war da noch Matze. "Schwerer Alki, fast hätte er den Löffel abgegeben", sagt Arcana. Heute arbeitet er in einer Spedition.

Chorleiter Schmidt klatscht in die Hände, alle müssen auf die Bühne, Katy, Arcana, Gotthold, der Alkoholiker, Micci von der Straße, und dazwischen wuselt das kleine Kind eines Paares herum, das sich im Chor kennengelernt hat. Berlin, Sinfonie einer Großstadt. Sie stimmen das Lied an, das sie schon so oft gesungen haben, dass sie es die Fanfare des Straßenchors nennen. Es ist von Nena und heißt "Wunder geschehen".

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