Süddeutsche Zeitung

Strafvollzug und Familie:Wenn eine Mutter hinter Gittern sitzt

Lesezeit: 7 min

Eine junge Frau bemerkt im Gefängnis, dass sie schwanger ist. Nach der Geburt kämpft sie darum, dass ihr Baby bei ihr bleiben darf. Doch die Justiz in Rheinland-Pfalz lehnt das ab. Über eine Trennung, die für alle Seiten grausam ist.

Von Jasmin Siebert

Als Kristina Silberstein an einem Morgen im September 2017 im Kreißsaal der Klinik Homburg den kleinen Tim aus ihrem Körper presst, drehen ihr die beiden Vollzugsbeamtinnen der Justizvollzugsanstalt Zweibrücken den Rücken zu. Sie schauen diskret weg - immerhin. Aber auch das ganze Justizsystem schaut offenbar diskret weg bei diesem Drama.

Am Tag nach der Entbindung, es ist 14 Uhr, liegt Silberstein wieder in ihrer Zelle. Und der kleine Tim in einer Auffangstation für Säuglinge. Bis zuletzt hatte die dreifache Mutter dafür gekämpft, wenigstens ihren jüngsten Sohn behalten zu dürfen. Doch die Justiz blieb hart.

13 deutsche Haftanstalten haben Abteilungen, in denen straffällig gewordene Mütter gemeinsam mit ihren Babys oder Kleinkindern untergebracht werden können. Im Saarland, aus dem Silberstein kommt, gibt es nicht einmal ein Frauengefängnis. Straffällige Frauen werden in der JVA Zweibrücken im benachbarten Rheinland-Pfalz untergebracht. Dort ist Platz für 300 männliche und 130 weibliche Gefangene, für Kinder ist kein Platz. Noch 2015 habe es keine einzige Geburt gegeben, sagt Gefängnisleiter Jürgen Buchholz. 2016 brachten dann drei inhaftierte Frauen Kinder auf die Welt, 2017 waren es acht. Dieses Jahr schon vier, zwei Frauen sind gerade schwanger. Woher der Anstieg kommt, weiß keiner. "Das ist zu viel. Wir müssen etwas tun", sagt Buchholz.

Man müsste meinen, dass schon ein einziges unschuldiges Kind, das ohne Not dem Trauma einer frühen Trennung von der Mutter ausgesetzt ist, eines zu viel ist. Doch in Rheinland-Pfalz, so scheint es, hat es erst diesen massiven Anstieg der Zahlen gebraucht, um ein Problem darin zu erkennen, Mütter und Kinder zu trennen. Denn bei wie vielen Frauen in den vergangenen Jahren eine Inhaftierung dazu geführt hat, dass sie ihre Säuglinge oder Kleinkinder gegen ihren Willen hergeben mussten, wurde bisher noch nicht einmal erfasst.

Kristina Silberstein ist 36 Jahre alt und nicht sehr groß, eine eher zierliche Frau mit einem schmalen Gesicht. Ihre Geschichte erzählt sie in einem Besprechungssaal in der JVA Zweibrücken. Sie trägt die weiße Anstaltshose und die klobigen, schwarzen Anstaltsschuhe. Für das Gespräch durfte sie das grüne T-Shirt der Gefängnisgärtnerei gegen ihr privates tauschen. Darauf ist ein Stern aus Glitzersteinen. Auch ihre Uhr ist mit Glitzersteinen eingefasst und über der Lippe funkelt ein Piercingstecker. Ein wenig Glamour im Gefängnisalltag, der noch trister ist, wenn man weiß, dass draußen neben einem erwachsenen Sohn zwei kleine Söhne warten.

Nach dem Hauptschulabschluss wurde Silberstein mit 18 zum ersten Mal Mutter. Sie ging Gelegenheitsjobs nach, arbeitete als Putzkraft, im Versand und zuletzt im Altenheim. Seit 2012 sind Silberstein und ihr Lebensgefährte ein Paar, er ist der Vater ihrer beiden jüngeren Söhne. Gemeinsam mit dem Älteren der beiden, Milo, lebten sie bis zu Silbersteins Inhaftierung im Mai 2017 in einer Kleinstadt im Saarland. Der erwachsene Sohn war schon ausgezogen. Der kleine Milo aber war noch keine zwei, als Polizisten seine Mutter abführten.

Sie habe eine gute Kindheit gehabt, sie sei "selbst abgeschweift", erzählt Silberstein. Ohne Führerschein sei sie Auto gefahren, habe Amphetamine genommen, betrogen und gestohlen, um an Geld zu kommen. Dreimal erhielt sie Bewährungsstrafen. Im Gefängnis sei sie letztlich wegen "Anstiftung zu Einbruch und Diebstahl" gelandet. "Ich darf mich noch eine Kleinkriminelle nennen", sagt sie selbstironisch, wird aber gleich wieder ernst: "Es war nicht rechtens, was ich gemacht habe, aber es war so." Den falschen Freundeskreis habe sie gehabt und als junge Mutter ohne Ausbildung habe sie das Geld gebraucht. "Ich war jung, dumm und stur", sagt sie. Und ja, um den Kick sei es ihr auch gegangen.

"Dann ging der Horror los", sagt Silberstein, als sie an den positiven Schwangerschaftstest zurückdenkt, den sie wenige Tage nach der Inhaftierung im Mai 2017 in den Händen hielt. Sie wollte nicht hinnehmen, auch von diesem Kind getrennt zu werden.

Knappe Plätze im offenen Vollzug

Silberstein schrieb ans Ministerium und an den Bürgerbeauftragten, bat um eine Verlegung in ein Mutter-Kind-Gefängnis. Nachdem das Büro des Bürgerbeauftragten nachgehakt hatte, befürwortete auch die JVA eine Verlegung. Immer wieder werden straffällige Mütter aus Rheinland-Pfalz und dem Saarland mit ihren Kindern in der JVA Frankfurt am Main untergebracht, allerdings nur im offenen Vollzug. Weil sie bei ihrer Inhaftierung positiv auf Amphetamine getestet worden war, musste Silberstein zunächst im geschlossenen Vollzug bleiben. Aus dem rheinland-pfälzischen Justizministerium heißt es dazu: "Die Plätze im geschlossenen Vollzug sind in der Regel durch den eigenen Bedarf der betreffenden Bundesländer voll ausgelastet, sodass es schlicht keine Kapazitäten für die Aufnahme von Gefangenen aus anderen Bundesländern gibt." So erteilte Hessen Silbersteins Überstellungsantrag eine abschlägige Antwort.

Eine Trennung von Mutter und Kind wegen mangelnder Kapazitäten? "Das verstößt ganz klar gegen das Grundrecht", sagt Christoph Thiele, der an der Universität Greifswald über den Familienschutz im Strafvollzug promoviert hat. Artikel 6 des Grundgesetzes stelle Familie und Mutterschaft unter besonderen Schutz, der dürfe nicht aus Platzmangel aufgehoben werden, sagt Thiele. In einem solchen Fall müssten Alternativen gefunden werden, die es ermöglichen, dass Kind und Mutter eine Bindung aufbauen. Denkbar seinen stark ausgeweitete Besuchszeiten und Hafturlaube sowie ein Wechsel in den offenen Vollzug. Auch Maja Liebing, Expertin für Frauenrechte bei Amnesty International, hält die Praxis für unhaltbar: "Gemäß internationaler Menschenrechtsstandards kann man eine klare Verpflichtung für die Regierung ableiten, ausreichend Plätze für einen Strafvollzug für Mütter zu schaffen."

Verlegungen von Gefangenen sind theoretisch bundesweit möglich. Gefängnisleiter Buchholz sagt, seine Mitarbeiter würden sich bemühen, Mütter in "irgendeiner anderen deutschen Haftanstalt" unterzubringen, sofern die Betroffenen dies wünschten. Jedoch werden nicht wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Recherchen der Süddeutschen Zeitung ergeben, dass in anderen Bundesländern, etwa in Bayern, Berlin und Hamburg, immer wieder Mutter-Kind-Plätze im geschlossenen Vollzug frei sind. Der Nachteil: Betroffene wären mitunter weit entfernt von ihrer Heimat und eventuell mit anderen, älteren Kindern inhaftiert.

Mit fortschreitender Schwangerschaft sei es ihr immer schlechter gegangen, sagt Silberstein. Dabei seien die Beamten nett zu ihr gewesen und hätten sich gut gekümmert, "es tat ihnen ja auch leid". Silbersteins Partner durfte bei der Geburt dabei sein. So konnte die Familie wenigstens für wenige Stunden zusammen sein - auch wenn sich Silberstein durch die Beamten gestört fühlte: "Als ob ich während einer Wehe davonlaufen würde", kritisiert sie. Nur bei Haftlockerung dürfen die Beamtinnen vor der Tür warten. Und die bekam Silberstein erst acht Wochen nach der Geburt.

Sabine Rubel-Kreuels ist Sozialarbeiterin in der JVA Zweibrücken und wünscht sich ein Mutter-Kind-Haus. Sie sagt: "Jährlich sind 100 000 Kinder in Deutschland von der Inhaftierung eines Elternteils betroffen." Es gebe Fälle, in denen eine Trennung von Mutter und Kind besser sei, da manche Frauen gar nicht fähig seien, eine Bindung zum Kind aufzubauen. "Und dann gibt es andere, die leiden sehr", sagt sie.

Schwangerschaft und Mutterschaft erkennt das deutsche Recht nicht als Grund an, um von einer Haftstrafe abzusehen. Doch man kann sich fragen, ob ein wenig Milde nicht helfen würde, neue Probleme zu vermeiden. Es gab schon Fälle, in denen eine Mutter eine Woche nach der Entbindung aus der Haft entlassen wurde.

Und dann ist da noch die Sache mit dem Stillen. Mit dem drei Monate alten, brüllenden Säugling auf dem Arm stand Anja Müllers Lebensgefährte am Abend ihrer Inhaftierung vor den hohen Gefängnismauern in Zweibrücken. Er flehte die Beamten an, das Kind der Mutter zum Stillen zu reichen. Seit sie mit 14 zum ersten Mal schwanger war, hat die 35-jährige fünffache Mutter gestohlen - Lebensmittel und Spielzeug für ihre Kinder, wie sie sagt. Ein Nintendo habe sie schließlich für ein gutes Jahr ins Gefängnis gebracht. Die Beamten schickten Vater und Kind ins Krankenhaus. Dort wurde der bis dato voll gestillte Säugling ans Fläschchen gewöhnt. Müller bekam Pfefferminztee, um die Milchbildung zu stoppen, fünf Liter am Tag, eine Woche lang.

Die erste Zeit ohne Kind im Knast habe sie nur im Bett gelegen und geweint, erzählt Müller. Auch Kristina Silberstein ging es sehr schlecht. "Ich dachte, ich sterbe innerlich", sagt sie, wenn sie an die ersten Tage nach der Entbindung zurückdenkt.

Nach zwei Wochen sah die junge Mutter ihren kleinen Tim zum ersten Mal wieder. "Komisch war das." Sie habe versucht, ihre Emotionen wegzudrängen. Doch die Tränen fließen auch, als sie davon erzählt. "Weinen bringt nichts", sagt sie und wischt sich schnell übers Gesicht. Mitleid will sie nicht, sie sagt stattdessen: "Ich bin nicht unschuldig hier." Doch was ihren Söhnen angetan worden sei, findet sie "unmenschlich".

Besser ging es Silberstein, als sie acht Wochen nach der Entbindung in den offenen Vollzug wechseln durfte. Dort sieht es mehr nach Studentenwohnheim als nach Gefängnis aus. Silberstein hat Fotos von ihren Kindern, ihrem Lebensgefährten und den beiden Hunden zu einem "I love you" aneinandergeklebt und an die Wand gehängt. Gitter vor den Fenstern gibt es nicht.

Nicht jede Gefangene hat eine Familie, die hinter ihr steht

Das Hühnerfüttern, Umgraben und Umtopfen in der Gärtnerei hilft ihr, wenn die Zeit stillzustehen scheint. Freitagmittag steht ihr Lebensgefährte am Tor, dann holen sie erst einmal den überglücklichen Milo vom Kindergarten ab. Seit April darf Silberstein an den Wochenenden nach Hause: Das ist jetzt bei ihrer Schwiegermutter, dorthin ist ihr Partner mit den kleinen Söhnen gezogen. "Wir haben ein sehr gutes Verhältnis", sagt Silberstein. Sie weiß, dass sie Glück hatte. Denn nicht jede Gefangene hat eine Familie, die hinter ihr steht. Oft landen die Kinder in Obhut, und die Rückführung ist ein langwieriger Prozess. Anja Müllers mittlere zwei Kinder kamen nach ihrer Inhaftierung in ein Heim. Obwohl sie im Sommer entlassen wird, dürfen die Kinder wohl erst Ende des Jahres zu ihr zurück, sagt sie.

Das rheinland-pfälzische Justizministerium hat inzwischen erkannt, dass die Trennung von Müttern und Kleinkindern problematisch ist, und Gefängnisleiter Buchholz damit beauftragt, ein Konzept zu erarbeiten. Die Entscheidung, ob je eine eigene Mutter-Kind-Abteilung eröffnet wird, liegt allerdings noch in weiter Ferne.

Im Juni wird Kristina Silberstein vorzeitig aus der Haft entlassen. Es geht ihr gut, doch die Spuren der Trennung bleiben: Der inzwischen dreijährige Milo klammert sich stark an seine Mutter. Zwei Monate musste er nach Silbersteins Inhaftierung in einer Pflegefamilie leben, weil sein Vater zunächst kein Sorgerecht für ihn hatte. Dort schrie er tagelang nach seinen Eltern. Während sie zu Milo eine starke Bindung habe, sei es bei dem kleinen Tim ganz anders, sagt Silberstein. Fremd fühle sie sich ihm: "Es ist, als hätte ich meine Nichte auf dem Arm", sagt sie. "Es fehlt etwas."

Zum Schutz der Betroffenen wurden alle Namen im Text geändert.

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Quelle:
SZ vom 11.08.2018
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