Süddeutsche Zeitung

Sprechblockaden:Welche Strategien gegen das Stottern helfen

  • Stottern lässt sich nur schwer therapieren. Seine Ursachen liegen im Gehirn: Offenbar arbeiten rechte und linke Gehirnhälfte bei der Sprachverarbeitung nicht richtig zusammen.
  • Aus der genetischen Veranlagung bei Betroffenen kann durch Vermeidungsstrategien und Ängste oft ein komplexes psychosoziales Problem werden.
  • Sinnvollere Strategien sind das "Fluency Shaping" und die Stottermodifikation.

Von Christina Berndt

Der Blogger Rezo ist ja inzwischen so bekannt wie ein blauer Hund. Bei den Christdemokraten löste sein Video zur "Zerstörung der CDU" zwar vor allem Beißreflexe aus. Vom Rest Deutschlands aber wird er großenteils gefeiert. Und das nicht nur für sein Polit-Video. Sondern auch für den offenen Umgang mit seiner Angst, dass er seine Sätze manchmal nicht gerade herausbringt.

Rezo stottert nämlich. Das merkt man nicht, wenn man seinem mehr als einstündigen Video lauscht, mit dem er die CDU dazu gebracht hat, sich selbst als noch gestriger zu entlarven, als es ohnehin schon erkennbar war. Aber zu einem Streitgespräch ins Fernsehstudio? Das traute Rezo sich nicht, als er zuletzt Anfragen von Maischberger, Lanz und Illner erhielt. "Jeder, der mich mal in einer Live-Diskussion erlebt hat, weiß, dass ich ein Problem mit Stottern habe", erklärte der 26-Jährige in einem Statement, "daher möchte ich kein Hauptbeteiligter in einer öffentlichen Diskussion sein."

Ausgerechnet Rezo stottert? Klingt Stottern nicht ein bisschen wie von gestern? Man könnte meinen, die Heerscharen von Logopäden, die Kinder heutzutage schon im Kleinkindalter zu einer sauberen Lautbildung antreiben, würden solche Unterbrechungen des Redeflusses ebenso wie Lispeln und andere Dyslalien in der jungen Generation inzwischen abgeschafft haben. Aber nichts dergleichen!

Zungenübungen nützen kaum. Die Ursache liegt tief im Gehirn

Stottern lässt sich nämlich nur schwer therapieren. Vor allem liegt seine Ursache nicht in falschen Zungenbewegungen, sondern tief im Gehirn: Offenbar arbeiten rechte und linke Gehirnhälfte bei der Sprachverarbeitung nicht richtig zusammen. Die Folge ist ein "relatives Sprechunvermögen", wie Martin Sommer es ausdrückt. Und man kann es nicht mit Zungenübungen korrigieren.

Sommer kennt alle Seiten des Stotterns: Der Professor für klinische Neurophysiologie erforscht das Phänomen an der Universität Göttingen, und zugleich ist er selbst davon betroffen. Deshalb engagiert er sich auch in der Bundesvereinigung Stottern und Selbsthilfe, deren Vorsitzender er ist. Etwa 0,8 Prozent aller Erwachsenen stottern, sagt Sommer. "Man kann den Umgang damit lernen, aber es bleibt dabei: Zu stottern bedeutet letztlich für viele eine lebenslange Beschäftigung mit dem eigenen Sprechen."

Bei Kindern ist das etwas anderes: Schätzungen zufolge stottern etwa fünf Prozent aller Kinder vorübergehend, doch bei den allermeisten verlieren sich die Sprechblockaden, die Lautwiederholungen und die unvorhergesehenen Dehnungen in den Worten wieder, oft ganz ohne Therapie. Das gilt vor allem für Mädchen. Sind unter den Kindern noch doppelt so viele Jungen wie Mädchen betroffen, so stottern im Erwachsenenalter fünfmal so viele Männer wie Frauen. Warum? "Das weiß kein Mensch", sagt Sommer. Und welches Kind wird sein Stottern bis ins Erwachsenenalter beibehalten? "Das kann man nicht gut vorhersehen", sagt Sommer.

Für die Betroffenen ist Stottern oft schlimm. Schließlich ist es ein furchtbares Gefühl der Ohnmacht, seine Gedanken wegen einer körperlichen Blockade nicht mitteilen zu können. Stottern sei "der größte Rotz", twitterte ein Leidensgenosse mitfühlend an Rezo, "... man möchte was sagen und man bekommt es nicht raus ... ." Notgedrungen entwickeln die Betroffenen Strategien, um trotzdem gut durchs Leben zu kommen. Doch das bedeutet meist Vermeidung - und damit Verzicht.

So wie bei Rezo, der sich vor Talkshows drückt, obwohl er so viel zu sagen hätte. Aber der Pfarrerssohn und studierte Informatiker (Abschlussnote: 1,0) hat sich eine Nische kreiert, in der er trotz Stotterns als Web-Künstler arbeiten und mit vielen Menschen kommunizieren kann. Bei seinem Video zur CDU hatte er den kompletten Wortlaut vor sich, erzählte er dem Spiegel, zu 80 Prozent habe er abgelesen. Sein Freund Tim saß daneben. "Ich habe zwei Sätze gesprochen, Tim hat gesagt: ist gut. Oder: noch mal. Wenn wir beide zufrieden waren, ging es weiter mit den nächsten Sätzen."

Rezo hat seine Tricks. Kürzlich traute er sich sogar ins Fernsehen

Meist aber macht Vermeidung das Problem nur größer. Die Ängste wachsen. So wird aus der genetischen Veranlagung ein komplexes psychosoziales Problem, viele Stotternde entwickeln Tics oder soziale Phobien. "Oftmals wird Stottern begleitet von Ängsten und Schamgefühlen", sagt Georg Thum vom Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik der Universität München, der mit stotternden Kindern arbeitet. "Stärker als Stottern", lautet sein Motto. Die Ursache der abgehackten Sprache mag körperlich sein, aber die Seele leidet mit. Deshalb seien Angst und Stress auch oft Auslöser für den nächsten Stotteranfall, sagt Martin Sommer. "Es ist der Klassiker, dass ein Kind in der Klasse nie als stotternd auffiel - bis es zum ersten Mal ein Referat halten soll." Dann ist schnelle Hilfe wichtig, damit das Stottern verarbeitet und nicht zum lebensbegleitenden Problem wird.

Wenn die Sprechstörung aber wie bei Rezo auch im Erwachsenenalter noch anhält, helfen zwei Strategien: Beim "Fluency Shaping" lernen die Patienten eine neue Sprechweise; sie verlangsamen ihr Sprechtempo am Wortbeginn stark, nutzen Atemtechniken, sprechen streng im Takt oder üben weiche Stimmeinsätze am Wortanfang: L-l-l stottert sich nicht so schnell wie B-b-b, eine "Laugenbrezel" kann man deshalb beim Bäcker leichter bestellen als eine "Brezel". Die zweite Strategie ist die "Stottermodifikation", es ist eine Art Exit-Strategie: Hier geht es darum, aus der Stotterattacke wieder herauszukommen, wenn sie einmal begonnen hat. Dazu stottert man absichtlich und hört ebenso gezielt wieder auf. Man verinnerlicht den Stopp. Auch Martin Sommer trainiert das. "Der Effekt ist verblüffend", sagt er. "Wenn ich einen schlechten Tag habe und fünf Minuten übe, habe ich den Rest des Tages kein Problem mehr."

Auch Rezo hat seine Tricks. Unlängst traute er sich damit sogar ins Fernsehen - in Jan Böhmermanns "Neo Magazin Royale". Das bewältigte er mit Bravour; allerdings verlief das Gespräch auch sehr friedlich, eher im "Gütiger alter Fernsehmann bemüht sich um junges Nachwuchstalent"-Modus. Wenn seine Sprache stockte, fing Rezo einen Satz einfach neu oder anders an, um aus der Stotterfalle zu kommen. "Das hilft für den Moment", sagt er, und trotzdem sei es "ein großer Abfuck, wenn ich ein Wort nicht sagen kann."

Sommer rät Betroffenen, trotz allem stärker in die Offensive zu gehen. Er hätte Rezo gerne in einer Talkshow gesehen. Menschen, die stottern, sollen ihren Interessen nachgehen, empfiehlt er; sie sollen den Beruf ergreifen, der ihnen gefällt. Die Routine wird das Problem kleiner machen - so wie bei der preisgekrönten Journalistin Vivian Pasquet, die eine anrührende Reportage über ihr Stotterleben schrieb. In der Grundschule musste sie bei einer Aufführung einen Stein spielen, damit sie auf der Bühne ja nichts sagt; heute führt sie ohne Scheu lange Interviews. Von Zuhörern dürfen stotternde Menschen ruhig ein bisschen Geduld verlangen. Sie haben schließlich genauso oft Wichtiges zu sagen wie Leute mit ausgeprägtem Redefluss, sie brauchen nur ein bisschen länger.

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Quelle:
SZ vom 20.07.2019/moge
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