Süddeutsche Zeitung

Stilkritik zum Trinkgeld:Der Königsweg liegt in der Großzügigkeit

War das jetzt zu geizig? Oder gar zu gönnerhaft? Oder hätte man lieber gar kein Trinkgeld geben sollen, weil die Pizzeria sowieso nur der Geldwäsche dient? Beim Obulus für das Servicepersonal fühlt sich der geneigte Geist oft überfordert - dabei ist es eigentlich ganz einfach.

Marten Rolff

So ganz sicher sind wir uns ja nie. Welche Wirkung hat der Betrag, den wir nach dem Essen im Lokal auf dem Tisch liegen lassen haben? War der jetzt angemessen oder geizig? Anerkennend oder protzig? Dient diese kleine Duisburger Pizzeria vielleicht ohnehin nur der Geldwäsche? Und: Sollte man den Kellner auch dann bedenken, wenn er der Sohn des Lokalbesitzers ist?

Ja, solche Überlegungen können einen Abend belasten. Wobei es im Prinzip natürlich ganz einfach ist, solange man sich an den blanken Zahlen orientiert: Bei uns zu Hause gelten fünf bis zehn Prozent als üblich, im Ausland (von Ausnahmen abgesehen) durchschnittlich eher zehn, in Amerika 15 bis 20 Prozent.

Lieber weglassen, anstatt "passt schon" zu murmeln

Das klingt hilfreich, lässt aber das ambivalente Verhältnis der Deutschen zum Trinkgeld unberücksichtigt, bei dem sie immer und unbedingt alles richtig machen wollen. Wer zum Beispiel an der Côte d'Azur auf solche Richtwerte setzt, muss auch drüberstehen können, wenn das russische Paar am Nebentisch aufmerksamer bedient wird.

Wem zu Recht der Service nicht passt, sollte das Trinkgeld weglassen, anstatt "passt schon" zu murmeln und unsicher ein paar Fünf-Cent-Münzen aus der Börse zu kramen. Und für alle, die ihren Geiz gern mit dem feingeistigen Hinweis bemänteln, eine zusätzliche Aufmerksamkeit könnte in fremden Ländern beleidigend wirken: stimmt, gelegentlich zumindest; in Ostasien zum Beispiel ist diese noch längst nicht überall üblich.

Ebenso richtig ist allerdings folgender Satz aus dem Knigge: Auf unserer globalisierten Welt "gibt es nur mehr wenige Kulturen, die sich durch ein Trinkgeld herabgewürdigt fühlen."

Um auch die letzten Zweifel auszuräumen, reicht es übrigens, sich kurz auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Trinkgeld zu besinnen, das in Deutschland mindestens seit dem 14. Jahrhundert gebräuchlich ist. So stammt der Begriff aus einer Zeit, in der es üblich war, dass die Herrschaft ihren mehr oder weniger leibeigenen Bediensteten gönnerhaft ein paar Münzen zuwarf, damit diese sich nach getaner Fron anständig betrinken konnten.

Übertragen auf den heutigen Lokalbesuch lässt sich daraus eine ganz einfache Formel ableiten: Wie viel kostet der Alkohol, den ich bräuchte, um ertragen zu können, einen Gast wie mich zu bedienen? Wer einigermaßen ehrlich mit sich selbst ist, muss zugeben: Der Königsweg liegt fast immer in der Großzügigkeit.

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Quelle:
SZ vom 12.08.2011/jobr
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