Sterbebegleitung:Ich bin da, Heinz

Wer das Leben begreifen will, kommt ums Ableben nicht herum. Else Buschheuer absolvierte einen Kurs in Sterbebegleitung - und verabschiedete Herrn Wetterling in den Tod.

Ich besuche meine Tante Uschi in Bitterfeld. Wir sitzen in ihrem Garten. Eine riesige Hornisse attackiert uns. "Mach mal Sterbehilfe", sagt Tante Uschi, die mich gern neckt, seit ich den Sterbebegleitungskurs beim Hospiz mache, und schiebt mir Paral über den Tisch, ein Insektenspray "mit der natürlichen Kraft der Chrysanthemen".

Sterbehilfe

Welcher Sterbende will mit Latex-Handschuhen gestreichelt werden?

(Foto: Foto: dpa)

Ich lege auf die Hornisse an und schieße so präzise, dass sie, schaumig tropfend, zu Boden rutscht. Sie landet auf dem Sockel eines Gartenzwerges und dreht sich dort um die eigene Achse, ohne allerdings das Brummen zu unterlassen. "Na, mal sehen", sagt Tante Uschi, zündet sich einen Zigarillo an und betrachtet mit Interesse das zuckende Tier. "Die leidet aber mächtig!"

"Das weiß man nie", sage ich und muss an Herrn Wetterling denken. Herr Wetterling hatte laut gerasselt und mit den Armen immer wieder ins Leere gegriffen. Einmal hatte er mir dabei eine versetzt, und ich war erschrocken gewesen von dieser jenseitigen Schlagkraft. Ich war außer mir. Ich rief die Ärztin. Der Mann schien entsetzlich zu leiden. Man musste doch etwas tun!

"Stirb doch endlich!"

Wetterling war nicht mein erster Sterbender. Ich hatte schon einige Jahre zuvor in Kalkutta im "Home for The dying Destitutes" der "Missionaries of Charity" Todkranke betreut. Aber das war anders gewesen. Die Menschen dort waren im Akkord gestorben. An Unterernährung, Tuberkulose, Hepatitis, Aids. Herrn Wetterling war ein Krebspatient. Zur Schmerzeinstellung stationär. Austherapiert, wie es heißt. Final. Ihn betreute ich im Zuge meines Hospizkurses, über den sich Tante Uschi immer lustig macht.

Die Ärztin beruhigte mich. Das In-die-Luft-Greifen sei bei Sterbenden normal, ein Reflex. Herr Wetterling leide möglicherweise gar nicht. Jedenfalls weniger, als es den Anschein habe. Er erlebe jetzt Dinge, über die wir nur mutmaßen können, Sensationen, von denen wir nie erfahren werden, erst in der Stunde unseres Todes. Ich solle mich lieber auf einen Stuhl setzen, nicht auf den Bettrand. Wer weiß, ob Wetterling das wollen würde. Man soll einem Sterbenden nicht auf die Pelle rücken.

Die Ärztin öffnete das Fenster (Damit die Seele hinausfliegt? Sie verneinte energisch. Für frische Luft!) und ließ mich mit Wetterling allein. Viele Schläuche und Kanülen steckten in seinem Körper. Sein Brustkorb pumpte. Der Puls am Hals zuckte wie wild. Sein Kopf stieß ruckartig in die Luft. Seine entzündeten Augen traten hervor, aus seinem Mund quoll gelblicher Schaum. Der ganze Mann klang wie eine riesige, brodelnde Kaffeemaschine. Es gab Momente, da wollte ich selber sterben. Es gab Momente, da wollte ich schreien: "Stirb doch endlich! Hör auf mit diesen schrecklichen Geräuschen!"

Ähnlich wie die Hornisse erweckte auch Herr Wetterling nicht meinen Brutpflegetrieb. Sterben sieht nicht gut aus, klingt nicht gut, riecht nicht gut. Bei einer Geburt dabei sein, das finden wir schick. Eine Patenschaft für ein Kind in Afrika übernehmen - das ist lobenswert, schön weit weg, überdies niedlich. Aber die Gegenwart eines Sterbenden bringt uns in allergrößte Bedrängnis. Wir wissen nicht, was man tut, was man sagt. Niemand hat uns gelehrt, was man tut, was man sagt. Wir wollen das nicht miterleben müssen, wir wollen einfach nur weg. Wenn die todkranke Oma fragt: "Muss ich sterben?", lügen wir: "Ach wo, wirst sehen, morgen geht's dir besser." Und geben Fersengeld. Und überlassen sie ihrem Geschick. Und treffen uns nachher wieder, wenn wir ihren Besitz unter uns aufteilen, wenn wir bis aufs Messer streiten über die Kosten des Grabsteins.

Ich bin da, Heinz

Das Sterben und das Nichtstunkönnen

Ich blieb an Wetterlings Bett, kühlte seine harte gelbliche Stirn, hielt seine blaugeäderte Hand, und sagte, wenn sein Blick für den Bruchteil einer Sekunde aus weiter Ferne zurückkam: "Ich bin da, Herr Wetterling, Sie sind nicht allein."

Mehr nicht. Mehr war nicht zu tun. Äußere Ruhe und innere Bewegung. Sein Sterben und mein Nichtstunkönnen wühlten mich auf. Diese Aufwühlung galt es auszuhalten, so lange es eben dauerte. Geduld haben. Stillsitzen. Einfach nur da sein. Nicht meine Stärken. Immer wieder ging ich ins Bad, einfach, weil ich mich bewegen musste, unter dem Vorwand, den Waschlappen anzufeuchten.

Doch dann wurde Herr Wetterling unruhig, atmete hastiger, röchelte. Ich nahm das als Indiz dafür, dass er meine Anwesenheit wünschte. Er wollte nicht allein sein. Als ich im Badezimmer des Krankenzimmers seine Utensilien sah, Kulturtasche, Rasierwasser, Seife in Seifendose, Zahnbürste, Zahnpasta, Deo, als mir bewusst wurde, dass er diese Dinge nun nicht mehr brauchen wird, dass sie bald in eine Tüte gepackt und den Hinterbliebenen mitgegeben werden, wurde sein Tod greifbar. Da stirbt ein Mensch. Ich nahm die Fieberkurve und suchte seinen Vornamen: Heinz.

"Also, ich könnte das nicht", sagt die Schwester, die nach dem Rechten schaut, und verlässt das Zimmer. Krankenschwestern lernen, Kranke zu versorgen, zu waschen, zu füttern. Wann immer sie erscheinen, sind sie in Aktion: schütteln Betten auf, wechseln die Wäsche und Verbände, messen den Puls. Sie sind das wirbelnde Leben. Na, Frau Klottke, jut jeschlafen? Ärzte schwören einen Eid, Leben zu retten, den menschlichen Organismus am Laufen zu halten, koste es, was es wolle. Sie dürfen das Leiden Sterbender um keinen Preis beenden, nur lindern.

Gurgelnde Organe

Heinz. Ich und Heinz. Ich hielt seine Hand, streichelte seine eingefallenen Wangen und lauschte dem Gurgeln seiner Organe. Ich atmete mit ihm gemeinsam, wie ein mithechelnder Ehemann im Entbindungskurs, in der irrwitzigen Hoffnung, wenn ich immer langsamer atme, dann wird vielleicht auch er langsamer atmen, wird friedlicher werden, einschlafen können. Obwohl er in den folgenden Tagen mehrfach "Ich kann nicht mehr" flüsterte, obwohl es oft so aussah, als sei gleich alles vorbei, schien er am Leben festzuhalten. In seiner Karteikarte war vermerkt "nicht religiös". Ob er deswegen schwer stirbt? Weil er vor dem Nichts steht? Oder gibt es noch etwas, was er klären will? Steht ein Abschied aus?

"Warum um Himmels willen machst du das?", hatte Tante Uschi fassungslos gefragt, als vor zwei Monaten mein Kurs im Hospiz begann. "Warum machst du nicht was Lebensbejahendes? Ein Weinseminar, einen Kochkurs?"

Uschi, die wohl weiß, dass wir alle sterben müssen, hat ein regelrecht feindseliges Verhältnis zum Tod. Sie ist wütend auf die Schneeglöckchen, die wieder blühen werden, wenn sie längst modert. Sie hasst die Sonne, den Mond, Tag und Nacht, die Jahreszeiten, die Meere und die Berge, alles, was wiederkommt, alles, was ewig ist. Sie will den Tod nicht, dem sie sich unaufhaltsam nähert. Sie will nicht daran denken und nicht darüber reden. Sie hält bei sich jedes Anzeichen von Alter und Verfall für vorübergehende Schwäche. Gleichaltrige sind für sie alte Leutchen. Wenn sie noch mal so jung wäre wie ich, dann hätte sie Besseres zu tun als Sterbebegleitung, sagt sie. Und doch studiert sie täglich die Todesanzeigen und erschrickt, wenn sie dort ihr Geburtsjahr findet. Nicht ein späteres, nicht ein früheres - ihres. "Wirst noch mal froh sein, eine Sterbebegleiterin in der Familie zu haben", hatte ich auf Uschis Tirade geantwortet. Und sie hatte gesagt: "Werd' bloß nicht frech!"

"Gut geschlafen und viel besser. Nahes Ende meiner Frau. Letzter fürchterlicher Kampf ihrer Natur. Sie verschied gegen Mittag. Leere und Todtenstille in und außer mir. Ankunft und festlicher Einzug der Prinzessin Ida und Bernhards. Hofr. Meyer. Riemer. Abends brillante Illumination der Stadt. Meine Frau um 12 Nachts ins Leichenhaus. Ich den ganzen Tag im Bett." Goethes Tagebucheintrag vom 6. Juni 1816. Er soll sich die Ohren zugehalten haben, um das Stöhnen seiner sterbenden Frau Christiane im Nebenzimmer nicht zu hören.

Ich bin da, Heinz

Was, bitte, ist ein "schöner" Tod?

Sterben macht keinen Spaß. Dem Sterbenden nicht und den Anwesenden nicht. Insofern schickt die Hospizbewegung der Himmel. Dort ist man konsequent aufs Sterben eingestellt und macht es sich zur Aufgabe, es liebend zu begleiten. Sterbende, die sich fürs Hospiz entscheiden, dürfen ihr Haustier mitnehmen, dürfen rauchen, dürfen trinken, dürfen ihre Zimmer dekorieren und endlich alle Fragen stellen, die sie aus Takt der eigenen Familie nicht gestellt haben.

Und doch, Hospiz ist Endstation. Wer ins Hospiz geht, der sagt ja zu seinem Tod. Wer einen Organspenderausweis ausfüllt, befasst sich mit der Möglichkeit des Todes. Wer eine Patientenverfügung ausstellt, wer sein Testament macht, zu Lebzeiten seine Bestattung regelt, beugt sich der Übermacht des Todes. Er findet sich ab. Das alles geht mir durch den Kopf, als ich die kreiselnde Hornisse sehe.

Für den normalen Verdränger ist es schwer, sich dauerlächelnden Hospizlern gegenüber zu sehen, die vom "schönen Tod" sprechen. Das hat etwas Eingeweihtes, Sektenhaftes. Was bitte kann schön sein am Tod? Der Tod ist doch schrecklich. Endgültig. Tabu. Muss man wirklich darüber reden? Kann man das nicht diskret abwickeln? Ein unheimliches Thema, gruselig, angsteinflößend. Und doch faszinierend. "Gestorben wird immer", ist der Slogan der Erfolgsserie "Six Feet Under", die den Beruf des Bestatters wieder en vogue gemacht hat, die auch dem tragischsten Todesfall Komisches abgewinnen kann.

Speichel aus dem Sprühfläschchen

Das Komische im Tragischen. Der Lachkrampf auf dem Begräbnis. Der Witz, in den man sich aus Verzweiflung flüchtet. Eine Schwester hat mich in das Verabreichen künstlichen Speichels aus dem Sprühfläschchen eingewiesen. Die Patienten nehmen den gern, sagt sie. Man soll Sterbenden nicht allzu viel zu trinken geben. Sie können kaum mehr schlucken. Die Flüssigkeit wird nicht mehr abgebaut, sondern ins Gewebe eingelagert. Ich sprühe Herrn Wetterling halbstundenweise künstlichen Speichel in den ausgetrockneten Mund, um ihm Erleichterung zu verschaffen. Das Geräusch, das er daraufhin macht, nehme ich als Zustimmung. Erst einige Stunden später, nachdem ich mir die Flüssigkeit selbst testhalber in den Mund gesprüht habe, höre ich auf. "Ich muss mich bei ihnen entschuldigen, Herr Wetterling", rufe ich, halb lachend, halb weinend, "ich wusste nicht, dass das so eklig schmeckt." Von da an feuchte ich seinen Mund mit dem Waschlappen an.

Die Stunden vergehen langsam. Die Handschuhe, die mich die Schwester bat anzuziehen, habe ich längst abgestreift. Würde ich von Latex gestreichelt werden wollen in der Stunde meines Todes?

Wetterlings Atem macht mir klar, was für ein ungeheures Pensum so ein menschliches Herz hat. Das Blut durch den Körper zu pumpen. Und die Lunge, dieser unermüdliche Blasebalg. Und die lebensmüden Nieren. Wo fängt ein Sterben an? Versagen die Organe nach und nach? Steigt der Tod von den Füßen aufwärts zum Kopf? Bleibt zuerst das Herz stehen? Bricht es? Und was ist mit der Seele? Gibt es eine? Und, wenn ja, fliegt sie hinaus, aus dem von der Ärztin geöffneten Fenster? Duncan MacDougall, ein Arzt aus Massachusetts, bestimmte vor mehr als hundert Jahren das Gewicht der menschlichen Seele mit 21 Gramm. Er hatte sterbende Menschen und Tiere im Bett an einer Präzisionswaage aufgehängt. Die Menschen wurden nach dem Tod 21 Gramm leichter! Hunde dagegen behielten ihr Gewicht bei. Sind Tiere seelenlos? Sind wir einem Gerücht aufgesessen? Töte ich deswegen eine unschuldige Hornisse, ohne mit der Wimper zu zucken und leide nur, wenn es mit meinesgleichen zu Ende geht?

Jetzt hocken wir hier schon mehr als zwei Tage. Da können wir eigentlich du sagen. "Ich bin da, Heinz. Du bist nicht allein. Jetzt hast du's gleich geschafft." Dabei kenne ich Herrn Wetterling nicht. Er war schon kaum mehr ansprechbar, als ich ihn traf. Er ist ein Fremder für mich, ich bin eine Fremde für ihn, unsere Begegnung ist vollkommen frei von persönlichem Ballast. Wir begegnen uns als die, die wir im Moment der Begegnung sind. Ich bin nicht die Tochter am Bett des Vaters, der ihr nie sagte, dass er sie liebt, sondern ich sitze am Bett eines Mannes, der mein Vater sein könnte, der irgendjemandes Vater ist. Vielleicht hat er Kinder. Vielleicht hat er seinen Kindern nie gesagt, dass er sie liebt. Und wie sind diese Kinder? Und wo sind diese Kinder? Warum sind sie nicht bei ihm? Und warum bin ich bei ihm, an diesem sonnigen Sonntag, und nicht bei meinen Eltern, die leben und sich bester Gesundheut erfreuen?

Egoismus und nackte Angst

Später wird Wetterlings Familie das Zimmer betreten, vollkommen hilflos mit der Situation. Die Frau wird schluchzen, die Tochter wird schweigen, der Vater wird röcheln, es wird die Frage im Raum stehen: Wie siehst du nur aus? Was tust du uns an? Was wird ohne dich? Wie geht es weiter, wenn du stirbst? Und aus dem liebenden Abschied wird ein Vorwurf, eine Komplikation. Der Sterbende soll nicht gehen. Er soll am Leben bleiben, für seine Familie, die seinen Tod nicht aushalten kann. Egoismus und Angst, nackte Angst. Vielleicht ist das Sterbenlassen viel schwerer als das Selbersterben.

Am dritten Tag, nachmittags, atmet Herr Wetterling dreißig Sekunden nicht. Dann atmet er wieder. Dann atmet er wieder dreißig Sekunden nicht. Dann atmet er wieder. Dann atmet er eine Minute nicht. Er ist jetzt ganz ruhig und sieht nach oben, an die Zimmerdecke. Ganz unspektakulär. Sein Gesicht sieht ein wenig schief aus und ändert die Farbe. Stirbt er? Ist er schon gestorben? Ich fühle nach seinem Puls und finde ihn nicht vor Aufregung. Ich streichele ihn, vielleicht fühlt er es noch, vielleicht geht er gerade hinüber ins Jenseits, aber er regt sich nicht. Ich nehme seine Hand. Sie setzt mir keinen Widerstand entgegen. Und genau in dem Moment, in dem ich zu beobachten glaube, wie sich sein Gesicht verändert, entseelt, genau in dem Moment, als ich begreife, dass er gestorben ist, tut er einen tiefen Seufzer, einen Seufzer, der mir durch Mark und Bein fährt. Danach atmen wir beide nicht mehr (ich vor Schreck, er, weil er tot ist), bis ich mich wieder meiner funktionstüchtigen Lungen besinne.

Ich öffne das Fenster weit. Heinz ist tot, ich lebe noch. Warme Sonnenstrahlen fallen in mein Gesicht. Die Gardinen wehen. Ich rufe die Ärztin. Sie stellt den Tod fest. Ich schließe seine Augen, aber sie gehen immer wieder auf. Lange muss ich die grauen Lider halten, bis sie geschlossen bleiben. Die Familie wird benachrichtigt. Sie wird in einer halben Stunde hier sein. Die Schläuche und Apparaturen werden entfernt. Ich falte Wetterlings Hände auf der Brust. Die Familie trifft ein, als es mir eben gelungen ist, seinen Mund zu schließen. Er sieht nun aus, als schliefe er.

"Sag mal, heulst du etwa?", fragt Tante Uschi. "Wegen so 'nem Viech?" Vielleicht hat sie recht. Was soll das, diese Sterbeflitze? Warum mache ich nicht was Lebensbejahendes, einen Kochkurs, ein Weinseminar? Bin ich morbid? Bin ich pervers? Will ich was gutmachen? Und, wenn ja, was? Und: an wem?

Die Hornisse liegt zusammengekrümmt. Ganz klein plötzlich, ganz harmlos und still. Im Tod hat sie jeden Schrecken verloren. Tante Uschi schnippt sie mit der Schuhspitze ins Gebüsch.

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