Sterbebegleitung bei Kindern:"Für uns war es ein Akt der Liebe"

Mit dreieinhalb Jahren stirbt Annukka an den Folgen eines Hirntumors. Ihre Eltern und die ältere Schwester begleiten sie bis zum Schluss. Nie wären sie auf die Idee gekommen, ihren Tod herbeizuführen. Sie fordern eine bessere Palliativbetreuung statt Sterbehilfe. Ein Gastbeitrag über die schwere Entscheidung, das eigene Kind gehen zu lassen.

Protokoll: Violetta Simon

Hanna Sabaß und Daniel Gerecke sind Diplom-Geografen und seit zehn Jahren in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit tätig. 2009 will das Ehepaar mit den Töchtern Annukka, 2, und Antonia, 8, für ein berufliches Projekt auf die Fidschi-Inseln ausreisen. Kurz vor der Abreise erkrankt Annukka schwer, vier Monate später wird ein aggressiver Hirntumor bei ihr diagnostiziert. Die Wohnung ist bereits aufgelöst, der Hausstand im Container unterwegs. Die Familie lässt sich vorübergehend in Bremen nieder. Eine nervenaufreibende und kräftezehrende Zeit beginnt, in der sich Hoffnung und Verzweiflung abwechseln - bis die Eltern erkennen müssen, dass es nicht mehr darum geht, Annukkas Leben zu retten oder zu verlängern. Sondern ihrer Tochter ein würdevolles Sterben zu ermöglichen. Doch die Medizin und das Gesundheitssystem sind darauf nicht ausgerichtet.

In einem sehr persönlichen Bericht haben die Eltern ihre Geschichte exklusiv für SZ.de aufgeschrieben. Ihr Fazit: Die Diskussion um aktive Sterbehilfe bei Kindern geht am Thema vorbei. Was Familien in einer solchen Situation wirklich brauchen, sind Spezialisten mit Palliativerfahrung.

Unsere Tochter Annukka erkrankte mit zweieinhalb Jahren an einem äußerst aggressiven Hirntumor. Noch bevor wir wussten, was sie hatte, verlor sie ihr Augenlicht und ihre Fähigkeit zu gehen. Es folgte ein Jahr mit unzähligen Untersuchungen, Operationen und Chemotherapien mit Stammzelltransfusionen. Nach einer kurzen, aber aktiven und lebensbejahenden Phase der Rekonvaleszenz starb unsere Tochter im Alter von dreieinhalb Jahren.

Eltern können innerhalb der bestehenden deutschen Gesetzgebung den Sterbeprozess ihres Kindes erleichtern und sogar beschleunigen, ohne aktive Sterbehilfe leisten zu müssen - wenn sie gut beraten werden. Das erfordert jedoch Achtsamkeit, Mut, Hingabe und vor allem die Fähigkeit, loszulassen.

Als uns klar wurde, dass wir den Kampf gegen Annukkas Krebszellen verloren hatten, standen wir zunächst vor der Frage nach der verbleibenden Zeit: Welche Möglichkeit gab es, ihr Leben zu verlängern? Und unter welchen Umständen? Die einzige Möglichkeit, Annukkas Leben um wenige Monate zu verlängern, wäre eine hochdosierte Strahlentherapie gewesen, die an 30 aufeinanderfolgenden Tagen unter Vollnarkose hätte durchgeführt werden müssen. Die Behandlung wäre nicht nur schmerzhaft gewesen, sondern hätte schwere geistige und körperliche Schädigungen zur Folge gehabt. Die Entscheidung lag bei uns.

In den Wochen zuvor hatten wir jeder für sich solche Szenarien in Gedanken durchgespielt und uns vor einer Entscheidung wie dieser gefürchtet. Wir hatten Angst davor, womöglich nicht einer Meinung zu sein. Angst davor, verantwortlich zu sein für einen schnelleren oder langsameren Tod zum Preis einer Behinderung. Wir hatten unsere Tochter bereits durch viele äußerst qualvolle Erlebnisse begleitet - immer mit dem Ziel, vielleicht ihr Leben zu retten. Nun war es anders. Es ging ums Sterben, um Zeit, um Leid und um Würde. Wir entschieden uns gegen die Strahlentherapie.

Wie geht Sterben?

Es war eine Entscheidung für ein schnelleres, aber würdevolles Sterben. Andere Eltern hätten vielleicht anders entschieden. Sie hätten ihre Gründe und ein Recht dazu gehabt. Wir konnten Annukka nicht fragen, denn sie war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Lage, uns eine Antwort zu geben. Doch wir sind uns sicher, sie hätte gesagt: Mama, Papa, ich will nicht wieder ins Krankenhaus.

Dann kam der schwere Teil: das Sterben. Wie ging das eigentlich? Und wo sollten wir am besten hin? Alle sagten, am besten sei es doch zu Hause. Das Krankenhaus hieß uns jederzeit willkommen, aber was sollten wir da noch? Das Pflegepersonal und die Ärzte sind mit jeder ihrer Handlungen auf das Überleben, den Kampf gegen den Krebs und auf Heilung eingestellt. Nicht aufs Sterben. Der Kinderonkologe, unser Kapitän auf hoher See während der Therapie, wirkte plötzlich hilflos, als wir ihn baten, uns zu erklären, was auf uns zukäme und wie wir unserer Tochter helfen könnten. Der niedergelassene Kinderarzt hatte keinerlei Erfahrung und keine Palliativausbildung. Er kannte auch keinen Kinderarzt in Bremen, an den wir uns wenden konnten. Wir waren fassungslos. Und wir bekamen es mit der Angst zu tun.

Es geht darum, nichts mehr zu tun

Hilfe kam schließlich von den Bremer Engeln, die sich über einen Hinweis des Kinderkrankenhauses mit uns in Verbindung setzten. Es handelt sich um einen Verein, der schwerstkranke Kinder und ihre Angehörigen betreut. Wir kannten die beiden Kinderkrankenschwestern bereits von der Kinderonkologiestation - es waren die zwei Einzigen mit Palliativausbildung.

Auch der Verein konnte keinen Hausbesuch im Notfall gewährleisten, denn neben dem Schichtdienst im Krankenhaus betreuten die beiden Frauen Kinder in ganz Bremen und Umgebung. Aber immerhin konnte uns endlich jemand erklären, welchen Verlauf das Sterben nehmen kann. Und dass die meisten Kinder zu Hause sein wollen. Sie organisierten Schmerz- und Epilepsie-Medikamente, ein Krankenbett und brachten Broschüren zur Sterbebegleitung mit.

Im Gespräch wurde uns klar, dass wir, wenn wir Annukka begleiten wollten, auf sie hören mussten und dass von uns allen eine 180-Grad-Wende gefordert war: Wie Krankenhäuser dazu da sind, Leben zu erhalten und zu heilen, sind Eltern dazu da, ihre Kinder zu versorgen, damit sie groß werden. Jetzt sollten wir genau das nicht mehr tun. Wenn Annukka nichts essen wollte, dann aß sie nicht. Wenn Annukka nicht mehr trinken wollte, trank sie nicht. Die Medikation wurde darauf eingestellt, Schmerzen zu lindern.

Alleingelassen

Unsere Aufgabe bestand von nun an darin, achtsam zu sein. Sie genau zu beobachten und ihre Bedürfnisse zu erfüllen, nicht unsere. Das war unsäglich hart, aber die Angst, ihr Leiden unnötig durch Zwangsernährung zu verlängern, war größer. Wir mussten lernen, dass wir keinen Notarzt rufen durften. Denn der wäre verpflichtet gewesen, Annukkas Leben um jeden Preis zu retten und sie ins Krankenhaus zu bringen. Auch wenn das für alle, besonders für Annuka, vollkommen unnötigen Stress bedeutet hätte. Wir waren auf uns allein gestellt. Und wir fühlten uns alleingelassen.

Wir befanden uns zunehmend in einem zeitlosen Raum des ungewissen Wartens, es war eine sehr nervenaufreibende und kräftezehrende Zeit. Annukka baute von Tag zu Tag ab. Aber sie litt nicht merklich. Sie war fröhlich, wenn sie wach war, häufig war sie geistig abwesend. Fast so, als würde sie sich gedanklich dorthin begeben, wo sie nach dem Sterben hingehen würde. Sie war sichtlich erleichtert, als wir ihr sagten, dass sie sterben darf und wir immer bei ihr sein würden. Doch unsere Angst blieb. Und dann war da ja noch Annukkas große Schwester.

Deshalb beschlossen wir, gemeinsam ins Kinderhospiz Löwenherz in Syke zu gehen - eine gute Entscheidung, endlich waren wir alle ver- und umsorgt. Hier gab es palliativ ausgebildete Ärzte, die uns genau sagen konnten, was wir wann verabreichen sollten. Zwei Wochen später - wir waren drauf und dran, uns für den letzten Weg in ein kleines Häuschen an der Wümme zurückzuziehen, gewappnet mit Wissen und Medikamenten - starb Annukka, am Morgen unserer geplanten Weiterreise, im Kinderhospiz. Nein, es war nicht friedlich und schmerzfrei. Aber es geschah zu dem von ihr bestimmten Zeitpunkt. Und wir, ihre Schwester, ihre Mama und ihr Papa, waren dabei. Wir konnten ihr sagen, dass sie gehen darf und ihr ein letztes Schlaflied vorsingen.

Für uns war es ein Akt der Liebe unserer Tochter gegenüber. Sie, unsere Kleine mit ihren gerade mal dreieinhalb Jahren, hat uns in Würde und in ihrem eigenen Tempo durch den Weg ihres Sterbens geleitet. Im Leben wären wir nicht auf die Idee gekommen, den Tod aktiv herbeizuführen oder gar jemanden darum zu bitten.

Kein Kind will getötet werden

Wir sind der festen Überzeugung, dass kein Kind getötet werden will. Wenn dieser Wunsch geäußert wird, ist das auf die gravierenden Umstände, den Schmerz und die Überforderung des Kindes und seines Umfeldes zurückzuführen. Das Kind glaubt womöglich, ein künstlich herbeigeführter Tod wäre ein besserer als ein natürlicher. Dann muss man herausfinden, woher diese Überforderung rührt und wie die Umstände für das Kind und die Familie verbessert werden können.

Der Palliativmediziner Professor Dr. Zernikow hat vollkommen recht, wenn er im Interview mit Süddeutsche.de sagt, die Debatte sei scheinheilig. Der eigentliche Skandal ist, dass die dringend benötigte professionelle Beratung und der Beistand für Eltern und Kinder, die zu Hause sterben wollen, nicht gewährleistet sind. Natürlich sind Eltern völlig überfordert, wenn sie ihr Kind durch Krampfanfälle und massive Schmerzen hindurch in den Tod begleiten sollen. Natürlich bekommen Kinder Angst und fühlen sich verantwortlich, wenn sie merken, dass ihre Eltern leiden und sich überfordert fühlen.

Palliativmedizin und ein wenig Psychologie sollten Pflichtbestandteil der ärztlichen Ausbildung sein. Was wir brauchen, ist ein Netzwerk von Pflegepersonal und Ärzten, die ambulant eine 24-Stunden-Notfallbetreuung gewährleisten können. Und die Finanzierung solcher Leistungen durch die Krankenkassen.

Hanna Sabaß und Daniel Gerecke leben heute mit ihrer älteren Tochter auf Fidschi. Die inzwischen zwölfjährige Antonia besucht die internationale Schule in Suva.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: