Süddeutsche Zeitung

Statistik: Kinder in Deutschland:Absage an die Familie

In keinem anderen Land der EU ist der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Bevölkerung so gering wie in Deutschland. Von einer flächendeckenden Betreuung ist die Politik noch weit entfernt. Was das Amt noch über das Leben von Kindern herausgefunden hat.

Thomas Öchsner

In der Bundesrepublik leben immer weniger Kinder. In den vergangenen zehn Jahren sank die Zahl der unter 18-Jährigen um 2,1 Millionen. Dies gab das Statistische Bundesamt in Berlin bekannt. "Deutschland ist das kinderärmste Land Europas", sagte der Präsident der Behörde, Roderich Egeler.

Besonders stark ist der Kinderschwund in Ostdeutschland: Hier gab es im Jahr 2010 etwa 29 Prozent oder 837.000 Kinder weniger als zehn Jahre zuvor. Etwas besser sieht es im Westen aus: Hier ging die Zahl der Minderjährigen um zehn Prozent zurück. Insgesamt lebten in deutschen Haushalten im vergangenen Jahr 13,1 Millionen Kinder.

Egeler rechnet damit, dass der Anteil der Kinder an der Bevölkerung weiter schwindet. Selbst wenn jedes Jahr 100.000 Menschen nach Deutschland einwanderten, würde der Anteil der unter 18-Jährigen auf 14 Prozent im Jahr 2060 sinken. Derzeit liegt der Kinderanteil bei 18,8 Prozent. Jeder sechste Einwohner ist damit jünger als 18 Jahre. In anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Großbritannien oder in den Niederlanden liegt der Kinderanteil über 20 Prozent. In der Türkei ist sogar fast jeder dritte Einwohner jünger als 18 Jahre.

Die neuen Zahlen der Statistiker beruhen vor allem auf dem Mikrozensus 2010. Das ist die größte jährliche Befragung von Haushalten in Deutschland und Europa. Was das Amt noch über das Leben von Kindern herausgefunden hat - ein Überblick:

- Kinderarmut: Jeder sechste der 13,1 Millionen Minderjährigen ist davon bedroht. Das Armutsrisiko ist damit nicht höher als bei Erwachsenen. "Kinder in Haushalten von Alleinerziehenden sind am stärksten gefährdet", sagte Amtspräsident Egeler. Dies gilt für mehr als jedes dritte Kind, das nur bei Mutter oder Vater lebt. Von Armut gefährdet bedeutet nach der Definition der Statistiker, dass das jährliche Nettoeinkommen im Elternhaus unter dem Wert von 11.151 Euro liegt. In gut einem Fünftel aller befragten Haushalte mit Kindern unter 16 Jahren wird aus finanziellen Gründen auf eine jährliche Urlaubsreise verzichtet. Sieben Prozent der Haushalte gaben an, wegen Geldmangels bestimmte Freizeitangebote wie Sport oder Musizieren nicht nutzen zu können. Bei welchem Einkommen Armut beginnt, ist umstritten. Je nach Definition können deutlich niedrigere Armutsquoten als die des Statistischen Bundesamts herauskommen.

- Sterbefälle: Sie sind bei Kindern von ein bis vierzehn Jahren um etwa ein Drittel zurückgegangen. Dies liegt vor allem daran, dass in den vergangenen zehn Jahren deutlich weniger von ihnen durch Unfälle, Selbstmord oder Gewalt ums Leben gekommen sind. Als zweithäufigste Todesursache in diesem Alter nannten die Statistiker Krebserkrankungen wie Hirntumore oder Leukämie. Im Jahr 2009 wurden in der Altersgruppe von ein bis vierzehn 239 Sterbefälle wegen Krebs gezählt.

- Straßenverkehr: Im vergangenen Jahr verunglückte alle elf Minuten ein Minderjähriger im Straßenverkehr. 205 Kinder und Jugendliche starben dabei. Das Unfallrisiko ist seit 2000 aber zurückgegangen: Damals verunglückten noch fast dreimal so viele unter 18-Jährige wie zehn Jahre später. Besonders gefährdet sind Sechs- bis 14-Jährige auf dem Fahrrad. Bei den 15- bis 17-Jährigen erhöht sich das Risiko deutlich, im Straßenverkehr umzukommen - wenn sie ein Mofa oder Moped fahren.

- Familie: Jedes vierte Kind lebt als Einzelkind. Knapp die Hälfte der Kinder hat einen Bruder oder eine Schwester, wobei 76 Prozent der Minderjährigen bei verheirateten Eltern ihr Zuhause haben. Auffällig sind die familiären Unterschiede innerhalb Deutschlands: Der Anteil der Alleinerziehenden in den neuen Bundesländern ist mit 24 Prozent deutlich höher als im Westen. In Ostdeutschland leben auch dreimal so viel unter 18-Jährige in Lebensgemeinschaften ohne Trauschein.

- Betreuung: Immer mehr Mädchen und Jungen unter drei Jahren werden in einer Kindertagesstätte oder von einer Tagesmutter betreut. Mittlerweile sind dies 23 Prozent. Deutschland ist aber noch weit entfernt von der Zielmarke (38 Prozent): Wenn die Zahl der Betreuungsangebote, wie von der Bundesregierung geplant, auf 750.000 bis 2013 steigen soll, müssen bis dahin 280.000 Plätze neu dazukommen. Sind die Kinder groß und selbständig, scheint das "Hotel Mama" vor allem für junge Männer einen großen Reiz auszuüben: Mit 25 Jahren lebte noch mehr als jeder dritte Sohn bei den Eltern. Bei den jungen Frauen war es nur jede Fünfte. Langfristig zeigt sich dabei: "Junge Erwachsene verlassen ihr Elternhaus heute später als früher", sagte Amtspräsident Egeler.

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SZ vom 04.08.2011/vs
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