Dem Geheimnis auf der Spur:Die Seesterntäuschung

Dem Geheimnis auf der Spur: Heute sind die Spuren der "Starfish"-Anlagen, die feindliche Piloten ablenken sollten, bei der südenglischen Ortschaft Arne verschwunden.

Heute sind die Spuren der "Starfish"-Anlagen, die feindliche Piloten ablenken sollten, bei der südenglischen Ortschaft Arne verschwunden.

(Foto: imago/Loop Images)

Ein Fake-Paris und Dörfer, die es nicht gab: In den Weltkriegen versuchte man in Frankreich und England, deutsche Bomber durch Attrappen in die Irre zu führen.

Von Harald Eggebrecht

Kein Kampf ohne Finte, kein Krieg ohne Kriegslist, man denke nur an die berühmteste, an Odysseus und sein hölzernes Riesenpferd, in dessen Bauch sich die Griechen versteckten und so nach zehn Jahren endlich in das bis dahin vergeblich belagerte Troja gelangten. Die gutgläubigen Trojaner zogen selbst das Pferd in ihre bis dahin uneinnehmbare Stadt, die nun den Griechen ausgeliefert war. Noch besser, man kann sich unsichtbar machen, davon erzählen die antiken Mythen, wenn von der Tarnkappe die Rede ist. Bei den alten Griechen nutzt der Unterweltgott Hades einen unsichtbar machenden Helm im Kampf gegen Zeus. Perseus braucht eine Tarnkappe beim Zug gegen Medusa. Im Nibelungenlied kommt Siegfried in den Besitz der Tarnkappe, die übrigens hier kein Helm, sondern ein Umhang ist.

Im Ersten Weltkrieg wollten sich die Franzosen gegen deutsche Bomben schützen, indem sie die feindlichen Flieger mit Attrappen und Camouflagen in die Irre führten. Der ambitionierteste Plan galt einem Schein-Paris an einer Stelle an der Seine, die von oben dem Verlauf des Flusses durch die französische Hauptstadt ähnelte. Man berief den berühmten Elektroingenieur Fernand Jacopozzi, der sich mit seinen Lichtinstallationen am Eiffelturm einen Namen gemacht hatte. Über ein Areal von rund 2000 Meter Länge baute er 1918 einen falschen Gare de l'Est aus Holzhäusern mit bemalten Leinwänden und einer aufwendigen Lichtinstallation, die die Flieger anlocken sollte. Sogar stehende und fahrende Züge auf Gleisen waren vorgesehen. Doch ob die Idee funktioniert hätte, konnte nicht mehr geprüft werden, der Krieg endete vor der Fertigstellung des Fake-Paris. Nur ein paar Fotografien erinnern noch an diese großangelegte Täuschung.

Bis 1943 wurden mehr als 200 solcher Ablenkungsanlagen errichtet

Anders gingen die Engländer im Zweiten Weltkrieg vor. Arne ist ein kleiner Ort auf der gleichnamigen Halbinsel an der englischen Ärmelkanalküste in der Grafschaft Dorset. Das Dorf wurde schon 1285 erstmals erwähnt, ist aber wahrscheinlich noch älter. Heute leben dort über 1300 Einwohner. Die Region ist touristisch attraktiv, besonders für Vogelfreunde, die hier ungestört seltene Piepmätze wie etwa die Dartford-Grasmücke beobachten können. Das Gebiet wurde nämlich 1966 zur Arne RSPB Reserve (Royal Society for the Protection of Birds) erklärt. Die kleine Kirche St. Nicolas of Myra, mehr als 900 Jahre alt, gilt kunsthistorisch als bedeutend. Die Landschaft wird in ihrer romantischen Verwilderung und Überwachsenheit als reine Natur wahrgenommen. So weit, so friedlich, schön und gut.

Doch Arne hat noch eine ganz andere Vergangenheit, an die heute so gut wie nichts mehr erinnert. Davon erzählt der Geograf Alastair Bonnett in seinem Buch "Die seltsamsten Orte der Welt". Unter den freundlichen Büschen und Ranken von heute liege ein ehemaliges Kriegsgelände: "Mag die militärische Landschaft auch verschlungen worden sein, so ist sie doch noch lange nicht verdaut." 1940 bombardierte die deutsche Luftwaffe die Industrie- und Kathedralstadt Coventry in Mittelengland gründlich. Über 4000 Häuser wurden zerstört, 580 Todesopfer waren zu beklagen, 850 Schwerverletzte wurden gezählt. Nazi-Propagandaminister Goebbels sprach höhnisch von "Coventrieren". Die Engländer reagierten mit einer Kriegslist, die sie "Starfish", Seestern, nannten. Sie begannen überall jenseits der wichtigen Städte solche Starfish-Anlagen zu bauen, die feindliche Bomber irreleiten sollten, indem sie sie glauben ließen, über eine brennende Stadt zu fliegen. Bis 1943 wurden mehr als 200 solcher "Seesterne" errichtet, anfangs aus allem möglichen brennbarem Material zusammengeworfen. Mit anhaltender Dauer des Krieges wurden die Attrappen pyrotechnisch immer ausgefuchster. Stahltanks, Wannen und Rohre wurden installiert und regelmäßig mit Benzin befüllt, besprüht oder betropft und dann von einem Kontrollbunker aus entzündet. Wasserdampfwolken stiegen auf und man produzierte meterhoch explodierende Stichflammen, indem Wasser in die brennenden Öl- und Benzinwannen geleitet wurde. Solche Starfish-Anlagen verbrauchten alle vier Stunden 25 Tonnen Treibstoff.

Die List rettete Tausende Menschenleben

Ein paar Kilometer entfernt von Arne befand sich in Holton Heath die Royal Naval Cordite Factory, eine wichtige Munitionsfabrik. Sie sollte durch eine Starfish-Anlage geschützt werden, die so nahe bei Arne angelegt wurde, dass das Dorf dafür 1942 evakuiert werden musste. Teerfässer und Rohre wurden so aufgebaut, montiert und mit Kerosin bespült, dass die Anlage, in Brand gesetzt, von oben betrachtet den Eindruck brennender Häuser erweckte. Die Ablenkung funktionierte, die Deutschen warfen vermeintlich zielsicher zahllose Bomben auf den Starfish ab, anstatt die Fabrik in Holton Heath zu zerstören. Auch sonst wurden die Scheinanlagen ein Erfolg, bis zum Juni 1944 wurden die "Seesterne" 730-mal attackiert, statt die echten Städte in Schutt und Asche zu legen. So wurden schließlich durch diese pyrotechnische Kriegslist Tausende Menschenleben gerettet.

Heute gibt es von diesen Vorrichtungen höchstens ein paar verfallene Kontrollbunker zu sehen, sonst sind die Spuren der Seesterne im Gelände verschwunden. So sind aus einstigen Bombentrichtern bei Arne überwachsene Bodenvertiefungen geworden und frühere Geschützstellungen im Gestrüpp versunken. Nach 1945 gab man das Dorf auf, die Häuser verfielen, bis 1966 eben die königlichen Vogelschützer das Gelände übernahmen und die Kirche, die einstige Schule und sonstige Gebäude renovierten. Die Zeit der Starfish-Anlagen aber endete, als 1943 durch Radarsysteme die Bomberpiloten nicht mehr auf den Sichtflug angewiesen waren.

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