Süddeutsche Zeitung

Stalking:Die Saat der Angst

Silvia Meixner wird seit Jahren gestalkt. Erst Stöhnen am Telefon, dann eine Morddrohung. Über den Horror eines Opfers.

Protokoll: Lars Langenau

"Im Frühling 2012 hatte ich für eine sehr lange Zeit einen letzten unbeschwerten Abend: Ich war mit Freunden in einem Restaurant, alle waren guter Dinge. Auf dem Heimweg hörte ich im Taxi meine Mailbox ab. Da war das Stöhnen eines Mannes am Telefon, der sich selbst befriedigte. Seltsam, dachte ich irritiert, hatte sich da jemand verwählt? Ein ganz normaler Großstadt-Irrer?

Beim zweiten Anruf war ich ein wenig beunruhigt, dachte aber nicht weiter darüber nach. Beim dritten Mal war klar, dass die Anrufe kein Zufall oder Verwechslung waren. Jemand hatte es auf mich abgesehen. Ich hatte keine Ahnung, wer der Mann sein könnte.

Der vierte Anruf ließ das vorherige Stöhnen vergleichsweise harmlos erscheinen. In der Walpurgisnacht 2012 kündigte der Unbekannte mit verstellter Stimme an, dass er mich töten wolle: 'Silvia, am 1. Mai wirst du umgebracht.' Diese Morddrohung war die Saat der Angst. Und sie ging auf. So wie sie jeden Tag aufgeht, bei Tausenden Opfern. Deutschland ist ein Paradies für Stalker.

Ich hatte vorher nie etwas mit Stalking zu tun. Plötzlich bestimmte es mein Leben. Es wurde surreal und bedrohlich. Mein Jäger zwingt mich seit mehr als drei Jahren zu einem Spiel, das ich nicht mitspielen will. Ich will mein altes Leben zurück. Ein Leben, in dem ich mich nicht ständig umdrehen musste, um sicher zu sein, dass mich niemand verfolgt.

Ich ging damals zur Polizei und traf dort auf eine engagierte Beamtin. Ich bat sie, mir zu sagen, ob ich das ernst nehmen müsse. "Das müssen Sie sehr ernst nehmen", erklärte sie. Sie fand heraus, dass der Anruf aus einem Internetcafé in einem Berliner Bezirk kam. Ich hatte einen flüchtigen Bekannten, der dort wohnt. Wir hatten uns einmal auf einer Party unterhalten, wie man sich eben auf einer Party oberflächlich unterhält. Danach traf ich ihn einmal in einem Café, doch da er nur Unsinn erzählte, verabschiedete ich mich schnell und hatte keinen persönlichen Kontakt mehr zu ihm. Jedenfalls nicht freiwillig.

Bis heute wundere ich mich über diesen Umstand: Es gibt in Berlin ein Internetcafé, in dem ein Mann saß, der sich selbst befriedigte, dabei eine Morddrohung aussprach und niemandem fiel es auf? Oder vielleicht störte es auch nur niemanden?

Identitätsdiebstahl bei Facebook

Bei Facebook verunglimpfte der Mann mich daraufhin mehrfach - bis ich ihn aus meiner Freundesliste löschte. Der Stalker stahl meine Identität bei Facebook und legte dort ein Profil unter meinem Namen an, versuchte so, sich in mein Leben zu schleichen. Immer wieder saß er vor meinem Haus im Auto. Ich bekam monatelang anonyme Anrufe, wechselte immer wieder meine Handynummer.

Einem gemeinsamen Bekannten erzählte er, dass wir ein glückliches Paar gewesen wären und ich alles kaputt gemacht hätte. Als ich das erfuhr, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich kenne diesen Mann nicht. Anfangs habe ich lange darüber nachgedacht, heute interessieren mich seine Beweggründe nicht mehr. Wie in einem Puzzlespiel führten alle kleinen und größeren Spuren immer wieder zu ihm. Nur zu ihm.

Ich kann nicht öffentlich sagen, wer der Verdächtige ist, weil er bislang nicht als Täter verurteilt wurde und er mich wegen Verleumdung anzeigen könnte, wenn ich seine Taten nicht belegen kann.

Vor einer Anzeige hat mich die Polizei mehrfach eindringlich gewarnt. Das ist das Problem bei vielen Stalkingfällen: Die Täter sind schwer dingfest zu machen. Ich habe seinen Namen, seine Adresse, Beweismaterial. Dass er jemals vor Gericht stehen wird, ist unwahrscheinlich. Unmöglich ist es nicht.

Lange, quälende Monate führte ich ein Leben wie unter einer Glasglocke, war einfach nur erschöpft. Heute kann ich Menschen verstehen, die aus Verzweiflung aus dem Fenster springen. Vielleicht treibt Stalker ihre Einsamkeit zu diesem Verhalten. Die Grundlage für Stalker scheint nach Gesprächen mit Opfern und Experten, die ich für mein Buch geführt habe, die Frustration über ihr erfolgloses Leben zu sein.

Sie suchen verzweifelt einen Partner, verlieben sich und dann muss es eben genau diese Person sein. Dabei verrennen sie sich - bis zur Obsession. Es wirkt wie eine Sucht. Außerdem will ein Stalker Aufmerksamkeit. Wenn das zu Handlungen führt, die der andere Mensch partout nicht will, beginnen Verfolgung und Diskreditierung. Auch wenn ich Angst vor einem Menschen habe, ist dies eine Form der Beziehung. Unfreiwillig, aber einem Stalker ist das egal.

Es sind vermeintlich kleine Handlungen, die die Polizei meist nicht weiter verfolgt. Die Summe macht die Angst aus. Natürlich ist es nicht verboten, im Auto vor der Haustür zu sitzen. Das wissen die Täter. Das wissen die Opfer. Die Vorfälle sind für Unbeteiligte nicht mehr als ein Ärgernis; für die Opfer ist es der reine Horror.

Mein Stalker legte eine Internetseite an, auf der ich als Prostituierte präsentiert wurde. Wenn man mich googelte, landete man darauf: 'Silvia Meixner liebt Abenteuer, ist allzeit bereit, kommen Sie gern einfach vorbei.' Mit Adresse. Das war lange im Netz präsent, dann war es plötzlich verschwunden.

Belächelt von der Polizei

Das war Identitätsdiebstahl und eigentlich verfolgbar. Wenn die Polizei es verfolgen möchte. Das Problem war, dass die Polizei sich nicht dafür interessierte. Viele Stalkingopfer erzählen, dass sie Ähnliches erleben: Sie gehen zur Polizei, werden belächelt und wieder nach Hause geschickt. Wie oft geht man danach noch zur Polizei?

Zwar gibt es den Paragrafen 238 des Strafgesetzbuches, doch der ist dehnbar wie ein Kaugummi. Der diensthabende Polizist entscheidet darüber, ob und wie er ihn anwendet. 2014 gab es laut Kriminalstatistik in Deutschland fast 22 000 Fälle nach diesem sogenannten 'Stalking'-Paragrafen. 80 Prozent der Opfer sind Frauen. Und zwölf Prozent aller Deutschen waren laut einer Studie der TU Darmstadt schon einmal Opfer eines Stalkers.

Jeder muss deshalb auch einen Stalker kennen. Das ist kein neues Problem, höchstwahrscheinlich gibt es das seit Menschengedenken. Nur die Methoden sind durchs Internet subtiler geworden. Das Netz enthemmt, schafft wunderbare Möglichkeiten für Täter, unerkannt zu bleiben. Vom Sofa aus machen sie anderen das Leben zur Hölle.

Bei der Speicherung von Handyverbindungsdaten hatte ich lange eine liberale Einstellung. Heute denke ich darüber anders. Früher war das Internet für mich ein Ort der Freiheit. Heute ist es für mich auch ein Hort des Bösen. Und ein Hort der Freiheit des Bösen. Das taugt zwar für Thriller - die Jagd nach den Tätern ist in der Realität aber mühsam. Durch mehr Ausweisung seiner realen Persönlichkeit könnte man zumindest versuchen, Stalking und andere kriminelle Online-Delikte einzuschränken.

Die Polizei empfahl mir, aus 'diesem Internet' rauszugehen

Mein Vertrauen in die Polizei ist unwiderruflich weg. Nachdem mir die eine Polizistin half und mich ernst nahm, waren die Polizisten, mit denen ich in der Folge zu tun hatte, ahnungslose Beamte, die aus meiner Sicht nur eines wollten: Den Fall so schnell wie möglich vom Tisch haben.

Sie empfahlen mir ernsthaft, aus 'diesem Internet' rauszugehen. Ich halte das für den völlig falschen Lösungsansatz: Die Stalker sollen raus aus dem Internet. Nicht die Opfer! In Berlin gibt es zwar eine Beratungsstelle für Stalker, aber für die Opfer nur wenig Beratung und Hilfe. Verkehrte Welt?

Die Berliner Polizei-Beamten, mit denen ich zu tun hatte, hatten keinerlei Ahnung von Cyberstalking. Sie verfahren offensichtlich nach der Theorie: Das kennen wir nicht, also gibt es das nicht. Eine Anzeige wegen Cyberstalking verlief im Sande.

Ein Polizist belächelte mich und erklärte mir, dass auch nicht alle Morde aufgeklärt würden und der Mann mir nur ein bisschen Angst machen wolle. Ja, das ist ihm gelungen, sagte ich. Und wurde nach Hause geschickt. Für mich war immer klar, dass die Polizei Menschen hilft. Dass man eine Morddrohung bekommt und nach Hause geschickt wird, das hätte ich nicht für möglich gehalten.

Auch nicht, dass ich als Opfer den Täter praktisch überführen soll. 'Stellen Sie ihm eine Falle', riet mir ein Polizist. Im Klartext: Ich sollte möglicherweise selbst kriminell werden, um die Arbeit der Polizei zu erleichtern oder gleich ganz zu erledigen. Dass die Polizei Stalkingopfer nicht ernst nimmt, ist Alltag. Viele Opfer geben entmutigt auf. Die Stalker freut es, denn so ist gewährleistet, dass sie weiter unbehelligt stalken können.

Gefährderansprache führt zu Erfolg

Natürlich verstehe ich, dass die Polizei nicht alles verfolgen kann. Erstaunlicherweise wird die Problematik Stalking von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich gehandhabt. Scharf und effizient sind die Vorschriften beispielsweise in Bremen: Hier gibt es umgehend eine Gefährderansprache, wenn ein Mensch Opfer eines Stalkers wird. Daraufhin hören 80 Prozent der Täter sofort auf. In meinem Fall hat eine Gefährderansprache bis heute nicht stattgefunden.

Stalker sind nur stark, solange sie im Dunkeln und Anonymen agieren. Sie haben furchtbare Angst davor, aufzufliegen. Deshalb sind Gefährderansprachen, bei denen ein Polizist vor der Tür steht und den mutmaßlichen Täter mit den Fakten konfrontiert, oft erfolgreich. Man holt Stalker aus der Anonymität. Sie wissen dann, dass andere wissen, was sie tun. Wenn die Oma, die Nachbarn, die Kollegen erfahren, was er wirklich treibt, wäre die soziale Kontrolle mit Sicherheit besser. Sicher würde so mancher Stalker - oder Stalkerin (ich meine immer auch Frauen, denn auch Frauen stalken) - sich überlegen, ob er nicht besser aufhören sollte.

Als ich mein Buchprojekt begann, dachte ich, es würde schwierig werden, Stalkingopfer zu finden, die über ihre Erlebnisse berichten wollen. Binnen weniger Tage hatte ich mehr Interviewpartner, als ich brauchen konnte.

Trotzdem ist Stalking nach wie vor ein Tabuthema in unserer Gesellschaft - es ist, als hätte das Opfer eine ansteckende Krankheit: Die Umgebung hält sich eher fern. Schlimm sind 'gute Tipps'. Irgendwann konnte ich Fragen wie 'Warst du schon bei der Polizei?', 'Warum helfen die dir nicht?' oder 'Hast du einen Anwalt/Kampfhund?' nicht mehr hören.

Zwar soll ich meinem Umfeld stets gern berichten, ob es neue Vorfälle gibt. Aber nachdem die Sensationslust befriedigt ist, verlischt auch das Interesse. Man weidet sich am Grusel, aber will nicht näher involviert werden oder gar helfen. Ein Opfer muss 'liefern', sein Umfeld stets mit Erlebnissen versorgen, je schauerlicher, je lieber. Bittet man um Hilfe, hört man oft 'Ist doch alles nicht so schlimm', 'Der meint das nicht ernst, mach' dir mal keine Sorgen' oder 'Der bringt dich schon nicht um'.

Heute ich - morgen du?

Mit diesem Verhalten unterstützt man indirekt die Stalker, denn die können sicher sein, dass man sie weder gesellschaftlich ächtet noch dass sie jemals vor einem Richter stehen. Tenor: Ist alles nicht so schlimm. Stalkingopfer haben keine Lobby, sie bleiben mit ihren Problemen und Ängsten weitgehend allein. Freundschaften zerbrechen. Jeden kann es treffen. Heute ich - morgen du?

Meine Lebensfreude war monatelang lahmgelegt. Eines Tages habe ich mir gesagt, dass ich sie wieder wecken muss, wenn ich aus dem Labyrinth der Hilflosigkeit und Angst herauskommen will. Das Wichtigste war wohl, dass sich nach mehr als eineinhalb Jahren Empörung und Wut bildeten. Warum nimmt es sich dieser mir fremde Mensch eigentlich heraus, mein Leben dermaßen zu beeinträchtigen.

Was hilft?

Was hilft? Ohne Freunde hätte ich es nicht geschafft. Man braucht in so einer Situation Menschen, die Verständnis und Geduld haben. Manchmal helfen banale Ablenkungen. Radfahren zum Beispiel. Oder Klavierspielen.

Was aber wirklich hilft, ist Zuhören und für ein Stalking-Opfer da sein. Es gibt Tage, an denen hilft Reden, an anderen überhaupt nicht, da möchte man nur abgelenkt werden. Ein Stalking-Opfer weiß nie, wann die Bedrohung ein Ende haben wird. Vielleicht morgen. Vielleicht in drei Monaten. Vielleicht auch nie.

All das begann 2012 und bis heute kann ich nicht sagen, ob es beendet ist. Ich hoffe, dass der mutmaßliche Stalker zur Vernunft kommt, nachdem er nun eine Vorladung bei der Berliner Amtsanwaltschaft hatte. Dort hat er zwar alles abgestritten, aber er weiß jetzt, dass er im Visier ist.

Bis heute bleibt die Frage, ob er mich heute umbringen wird. Oder morgen. Oder gar nicht."

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Silvia Meixner, 49, ist Journalistin in Berlin und hat über ihre Erlebnisse ein Buch geschrieben, das auch konkrete Hilfe bietet: "Gestalkt - Tagebuch der Angst. Wie ich mich gegen meinen Verfolger zur Wehr setze", Heyne 2015, 8,99 Euro.

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