Süddeutsche Zeitung

Stadtenwicklung:Hamburg-Steilshoop: Rau, hart, herzlich

Ein hässliches Einkaufszentrum und viele Plattenbauten: Steilshoop passt nicht zum schicken Hamburg. Aber gerade in Problembezirken zeigt sich, ob eine Stadt sozial funktioniert. Ein Besuch.

Von Thomas Hahn

Am Tag, als Herr M. die Hüllen fallen ließ, hat der Pastor Sönke Ullrich besonders deutlich gespürt, wie sehr er Steilshoop mag. "Herr M. war ein Habermas-Schüler." Aber irgendwann nach dem Philosophie-Studium wurde er wunderlich. Er kam nach Steilshoop, in Hamburgs trabantenstadtähnliche Siedlung zwischen Barmbek und Ohlsdorf. Er lebte in einer Wohnung über dem Einkaufszentrum. Jeden Sonntag ging er in die Kirche. Allerdings musste Herr M. den Gottesdienst immer vom Foyer aus verfolgen, weil er nie aufhören konnte zu rauchen. Und eines Tages marschierte Herr M. splitternackt und mit einer Fahne des Fußballklubs FC St. Pauli in der Hand an den Betonfassaden vorbei, über den Schreyerring, durchs Einkaufszentrum, durchs Stadtteil-Café.

Die anderen Steilshooper sprachen Herrn M. darauf an wie einen, dem eine Unaufmerksamkeit unterlaufen ist. "Herr M., ziehen Sie sich doch mal was an." Irgendwann verschwand Herr M. und kam angezogen zurück, als sei nichts gewesen. "In Volksdorf wäre Herr M. sofort in der Psychiatrie gelandet", sagt Sönke Ullrich. "Da dachte ich: Was für ein großartiger Stadtteil, der das aushält."

Hamburg findet sich dieser Tage besonders schön. Das Eröffnungskonzert der Elbphilharmonie am 11. Januar steht bevor. Die Hansestadt erstrahlt im Glanze einer kühnen Architektur und feiert sich für ihre Leistung, ein Projekt zum glücklichen Ende geführt zu haben, das wegen diverser Fehlplanungen schon in der Rangliste der größten deutschen Geldverbrennungs-Vorhaben notiert war. Sie feiert sich zu Recht. Denn stimmt es nicht, dass eine moderne Metropole auch mal was wagen muss, um sich nicht in humorlosen Sparkursen und Mittelmaß zu verlieren?

Natürlich stimmt das.

Die eigentlichen Leistungen der Stadt spielen sich trotzdem woanders ab. Dort nämlich, wo die Vielfalt des Lebens zu Brüchen und Schwierigkeiten führt. Soziale Brennpunkte hat man solche Orte in den Achtzigerjahren genannt, heute bezeichnen Stadtentwickler sie etwas höflicher als "Quartiere mit besonderem Entwicklungsbedarf". Hamburg hat viele Gesichter. Es gibt das Wohlstands-Hamburg am Wasser, das sich in der Pracht der Elbphilharmonie spiegelt. Es gibt das alternative Hamburg in und um St. Pauli, in dem eine pulsierende Kreativ-Szene, linksaktivistische Milieus, Rotlicht-Industrie und Gentrifizierungs-Prozesse den Alltag prägen.

Zweieinhalb Quadratkilometer, 19 000 Einwohner, keine U-Bahn

Und es gibt den ganzen großen Rest: das unbekannte Hamburg der vielen anderen, die auch irgendwie über die Runden kommen müssen. Prekäre Existenzen und zufriedener Mittelstand verschwimmen in diesen Gebieten. Und bei einzelnen Siedlungen springt einen die Tristesse an. Zum Beispiel in Steilshoop, einem Gebiet mit Bäumen und Plattenbauten, aus dem ein Fremder nicht so schnell schlau wird.

Steilshoop im Bezirk Wandsbek. Zweieinhalb Quadratkilometer groß. 19 000 Einwohner. Keine U-Bahn. Letzteres erklärt, warum Steilshoop so wirkt, als sei es mittendrin in Hamburgs Nordosten und trotzdem nicht dabei. Besuchern gibt der bunte Bahnlinien-Plan Orientierung, aber Steilshoop kommt dort nicht vor. Viele verbinden den Namen deshalb allenfalls mit Berichten über knappe Kassen und wilde Jugendliche. Selbst die Sprecherin des Bezirks Wandsbek räumt ein: "Der Stadtteil hat ein Imageproblem." Ullrich sagt: "Der Ruf ist schlecht, deshalb wollen viele schnell weg von hier." Wenn hier unter anderem ein neues Bildungszentrum namens "Campus Steilshoop" entsteht, hat das auch damit zu tun, dass die alte Stadtteilschule nicht genug Anmeldungen hat.

In Steilshoop kann man lernen, dass ein schlechter Ruf hartnäckiger ist als ein guter. Die Großsiedlung Neu-Steilshoop galt einst als letzter Schrei der Stadtentwicklung. Sie wuchs ab 1969 binnen sechs Jahren als raffiniert angeordnetes Fertigbetonparadies mit zwei Mal zehn Wohnringen, die von oben aussehen wie die Flügel eines Schmetterlings. Jeder Wohnring besteht aus unterschiedlich hohen Häusern und einem großen, grünen Innenhof. Eltern können hier vom Balkon aus ihre spielenden Kinder im Blick behalten. Ins Bild der Trabantenstadt passt so richtig eigentlich nur der ausladende Riegel aus Hochhäusern, der das Gemeindezentrum umschließt.

Das klingt gut. Aber der Reformstadtteil scheiterte zunächst. Im billigen Wohnraum zerbrach die soziale Balance. Aufsteiger gingen weg, Schlechtverdiener und Perspektivlose blieben. In den vergessenen Ecken des Betonschmetterlings blühte ihr Frust; Kulturen und Jugendbanden prallten aufeinander. Steilshoop wurde zum Inbegriff des finsteren Vielvölkerstadtteils.

1986 begann der Hamburger Senat, Steilshoop wohnlicher zu machen und eine nachhaltigere Sozialarbeit zu organisieren. Initiativen, Stiftungen, Kirchen, Vereine und die Steilshooper selbst haben aus dem Stadtteil seither ein Auffangbecken für Minderheiten gemacht, für Flüchtlinge, Hartz-IV-Empfänger, Opfer der Altersarmut, Menschen mit Behinderung. Es gibt ein Netz an Sozialeinrichtungen, Beratungen, Schulen, Kindergärten, Sportplätze, ein Ärztehaus, eine Stadtteilzeitung. Und seit die Wohnungsgesellschaften vor einigen Jahren angefangen haben, das Viertel zu renovieren, wirkt es freundlicher.

Aber das schlechte Image ist noch da. Manche stellen sich deshalb vor den Stadtteil wie eine Art Türsteher, wenn ein Berichterstatter rein will. Martina Stahl und Beatrice Roggenbach, Projektleiterinnen im Stadtteilbüro, wollen zum Beispiel genau wissen, warum es eine Steilshoop-Reportage geben soll. Wegen des knalligen Ghetto-Vorurteils vielleicht? Die Diplom-Sozialarbeiterin Stahl lächelt. "Steilshoop ist ein Wohnviertel für viele Leute, das sehr grün ist und sehr ruhig", sagt sie.

Es ist trotzdem nicht schwer, das Steilshoop-Vorurteil bestätigt zu kriegen. Das Einkaufszentrum ist ein Markt der Traurigkeiten: Billigläden und viel Leerstand. Zuletzt ist der Woolworth-Markt ausgezogen. Die hohen Mieten, die der dänische Investor verlangt, dürften noch andere Geschäfte überfordern. Das Stadtteil-Café ist ein Vereinsbetrieb mit Niedrigpreisen, der ohne Zuschüsse zumachen müsste. "Privatwirtschaftlich funktioniert hier ganz wenig", sagt Pastor Ullrich.

Im Plattenbau: "Keiner kennt den anderen"

Und Dora Heyenn, fraktionslose Abgeordnete der Hamburgischen Bürgerschaft, erinnert sich an trübe Steilshoop-Erfahrungen. Sie macht gerne Hausbesuche, um ihre Politik zu erklären. Einmal stand sie an der Tür einer Hochhauswohnung. Von innen hörte sie eine dünne Frauenstimme: "Ich habe keinen Schlüssel." In der Anonymität der Plattenbauten fällt es offenbar nicht auf, wenn ein Mann seine Frau einsperrt. "Keiner kennt den anderen", sagt Dora Heyenn.

Bekennende Steilshooper erzählen das Gegenteil: Sie schwärmen von den weiten Innenhöfen, den verkehrsberuhigten Straßen, vom Dorfcharakter der Großsiedlung. Jeder kenne jeden. Sie verweisen auf die Schrebergärten jenseits der Hochhäuser und auf die Bushaltestelle vorm Einkaufszentrum, durch die Steilshoop eben doch mit der Außenwelt verbunden ist.

Lokalpatriotische Verklärung? Oder spinnen die kritischen Beobachter?

Pastor Ullrich würde sagen, dass beide Seiten einen Teil der Wirklichkeit abbilden. "Ein Viertel der Steilshooper lebt praktisch schon immer hier, aus denen ergibt sich der Dorfcharakter", erklärt er, "aber 75 Prozent sind auf der Durchreise." Steilshoop ist traditionell ein Flüchtlingsstadtteil, deshalb sind hier immer viele fremd. Und Martina Stahl sagt: "Es leben halt sehr unterschiedliche Menschen hier."

Immerhin, der raue Teil der Wirklichkeit ist freundlicher geworden. Hadi kann das bezeugen, denn er gehörte einst zu den Steilshooper Jungs, die als schwer bezähmbar galten. Hadi sitzt mit Mahmout und Hamza (Namen geändert) im Einkaufszentrum. Sie erzählen von den wilden Neunzigern, als sie mit 30, 40 anderen unter dem Namen Ghetto-Kings den Stadtteil unsicher machten. Sie blicken mit gemischten Gefühlen zurück auf die Gang. Wehmütig einerseits, weil sie damals wirklich was machten aus ihrer Perspektivlosigkeit und nicht nur mit dem Handy rumspielten wie die Jugend von heute: Sie waren Breakdancer, Graffiti-Künstler, Hip-Hopper, Fußballer. Und sie knackten ihre Autos noch mit Schraubenzieher und Draht, nicht per Laptop wie die Gauner heute. "Früher war das Handarbeit", sagt Hamza und lacht.

Andererseits sind sie auch etwas kleinlaut. Sie bauten schon sehr viel Scheiß damals: S-Bahn-Surfen, Autos klauen, damit Rennen fahren oder ohne Führerschein Mädels ins Autokino nach Billbrook chauffieren. Schule? "Wir hatten Bock drauf, aber wir haben es nicht verstanden", sagt Hamza. Ihre Eltern, die Gastarbeiter aus Palästina waren? "Konnten nichts machen." Heute sind sie Ende dreißig. Mahmout und Hamza haben Kinder sowie feste Jobs, Hadi arbeitet als Kaufhausdetektiv und dolmetscht im Flüchtlingsheim. "Heute passen wir besser auf die schulischen Leistungen unserer Kinder auf", sagt Mahmout. "Damit die nicht so werden wie wir", sagt Hadi. Viele frühere Ghetto-Kings führen ein geregeltes Leben. Andere haben sich umgebracht. Einer starb an einer Überdosis. Hadi, Mahmout und Hamza sind froh, dass es keine Ghetto-Kings mehr gibt. Wenn das Einkaufszentrum gut wäre, fänden sie Steilshoop heute richtig toll.

Seinen Kollegen in den besser situierten Stadtteilen sagt der Pastor Sönke Ullrich immer: "Wir in Steilshoop leben in der Zukunft." Ullrich, 61, sitzt im Foyer der Martin-Luther-King-Kirche, die von außen eher an ein Badezimmer erinnert als an ein Gotteshaus. Die Wände des Kastenbaus sind mit blauen Fliesen verkleidet, was der Kirche den Beinamen "blaue Kachel" eingebracht hat. Das ist eigen, und gerade diese seltsame Mischung aus Herz, Hässlichkeit und ungewöhnlichen Formen hat den Pastor Ullrich an Steilshoop immer fasziniert. "Wir sind hier komplett Multikulti", sagt er mit leisem Stolz, ein Schmelztiegel verschiedenster Kulturen, Religionen, Gebrechen, Problemen. Ullrich mag die Herausforderungen, die diese Vielfalt mit sich bringt. Hier hat er als Kirchenmann wirklich Nächstenliebe anwenden können.

"Wer hierher schon alles kam ..." Ullrich sieht jetzt nachdenklich aus. "So stelle ich mir Kirche vor, als soziales, spirituelles Zentrum." Da mag die Elbphilharmonie noch so toll sein - für ihn ist Steilshoop der Bringer: "Solche Stadtteile leisten die Hauptintegrationsarbeit der Gesellschaft."

Probleme als Standortvorteil, so könnte man Steilshoop auch sehen. Der Stadtteil schöpft seine Kraft aus dem täglichen Kampf für Schwächere. Das bringt sozialen Frieden in die entfernten Straßenschluchten der Metropole, allerdings keinen Weltruhm. Dafür braucht es eine Elbphilharmonie, deren Schönheit jeder gleich versteht. Wobei Steilshoop durchaus auch leuchten kann.

Wenn neue Gäste kommen, sagt Marjana Zagar-Defayay, sollten sie vor dem Haus die Augen zumachen und sie erst wieder öffnen, wenn sie drinnen sind im Tanzwerk Hamburg, Cesar-Klein-Ring 40. "Wir sind die absolute Oase", sagt sie. Aus der Steilshooper Betonlandschaft vor dem Einkaufszentrum geht es durch ein schmuckloses Treppenhaus zu einer Tür. Dahinter liegt tatsächlich eine andere Welt: helle Wände, blankes Parkett, eine Bar in Weiß. Und die Tanzwerk-Betreiber passen zum Stadtteil wie Adlige zur Dönerbude. Marjana Zagar-Defayay und Patrick Defayay sind Diplom-Tanzlehrer und frühere Spitzen-Tänzer, sie strahlen jene Anmut und faltenlose Schönheit aus, die man in Steilshoop sonst nur auf Werbeplakaten sieht.

Vor sieben Jahren übernahm Marjana Zagar-Defayay die Schule, ein Wechsel von Langen nach Hamburg erschien ihr reizvoll. Aber als sie zum ersten Mal in der damals noch nicht renovierten Steilshooper Betonkulisse stand, wollte sie gleich wieder weg: "Es hat eine halbe Stunde gebraucht, um mich dazu zu bringen, hier reinzugehen." Sie hat sich dann doch mit den Räumen angefreundet, vor allem mit der Tanzfläche. "Das ist ein Schwingparkettboden", sagt sie ehrfurchtsvoll. "Etwas, was es kaum noch gibt." Besonders edel, besonders gelenkschonend. Und jetzt ist also Glanz im grauen Haus. Nicht nur Kurse für Standardprogramm, Erwachsenen-Hip-Hop oder Wettkampf-Tanzen finden hier statt. Sondern auch kleine Bälle, zu denen Damen mit Hochsteckfrisuren und Herren mit Krawatte kommen. Für Sozialfälle ist das nichts, für Ghetto-Kings auch nicht. Marjana Zagar-Defayay sagt: "Unsere Kids in den Kursen sind so süß."

Es kann sein, dass mancher Steilshooper mit Frau Zagar-Defayay weniger anfangen kann als mit einem nackten Herrn M. Aber das macht nichts. Sie lassen hier alle ihr Leben leben. Auch die Schönen.

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Quelle:
SZ vom 07.01.2017/bepe
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