Am Tag, als Herr M. die Hüllen fallen ließ, hat der Pastor Sönke Ullrich besonders deutlich gespürt, wie sehr er Steilshoop mag. "Herr M. war ein Habermas-Schüler." Aber irgendwann nach dem Philosophie-Studium wurde er wunderlich. Er kam nach Steilshoop, in Hamburgs trabantenstadtähnliche Siedlung zwischen Barmbek und Ohlsdorf. Er lebte in einer Wohnung über dem Einkaufszentrum. Jeden Sonntag ging er in die Kirche. Allerdings musste Herr M. den Gottesdienst immer vom Foyer aus verfolgen, weil er nie aufhören konnte zu rauchen. Und eines Tages marschierte Herr M. splitternackt und mit einer Fahne des Fußballklubs FC St. Pauli in der Hand an den Betonfassaden vorbei, über den Schreyerring, durchs Einkaufszentrum, durchs Stadtteil-Café.
Die anderen Steilshooper sprachen Herrn M. darauf an wie einen, dem eine Unaufmerksamkeit unterlaufen ist. "Herr M., ziehen Sie sich doch mal was an." Irgendwann verschwand Herr M. und kam angezogen zurück, als sei nichts gewesen. "In Volksdorf wäre Herr M. sofort in der Psychiatrie gelandet", sagt Sönke Ullrich. "Da dachte ich: Was für ein großartiger Stadtteil, der das aushält."
Hamburg findet sich dieser Tage besonders schön. Das Eröffnungskonzert der Elbphilharmonie am 11. Januar steht bevor. Die Hansestadt erstrahlt im Glanze einer kühnen Architektur und feiert sich für ihre Leistung, ein Projekt zum glücklichen Ende geführt zu haben, das wegen diverser Fehlplanungen schon in der Rangliste der größten deutschen Geldverbrennungs-Vorhaben notiert war. Sie feiert sich zu Recht. Denn stimmt es nicht, dass eine moderne Metropole auch mal was wagen muss, um sich nicht in humorlosen Sparkursen und Mittelmaß zu verlieren?
Natürlich stimmt das.
Die eigentlichen Leistungen der Stadt spielen sich trotzdem woanders ab. Dort nämlich, wo die Vielfalt des Lebens zu Brüchen und Schwierigkeiten führt. Soziale Brennpunkte hat man solche Orte in den Achtzigerjahren genannt, heute bezeichnen Stadtentwickler sie etwas höflicher als "Quartiere mit besonderem Entwicklungsbedarf". Hamburg hat viele Gesichter. Es gibt das Wohlstands-Hamburg am Wasser, das sich in der Pracht der Elbphilharmonie spiegelt. Es gibt das alternative Hamburg in und um St. Pauli, in dem eine pulsierende Kreativ-Szene, linksaktivistische Milieus, Rotlicht-Industrie und Gentrifizierungs-Prozesse den Alltag prägen.
Zweieinhalb Quadratkilometer, 19 000 Einwohner, keine U-Bahn
Und es gibt den ganzen großen Rest: das unbekannte Hamburg der vielen anderen, die auch irgendwie über die Runden kommen müssen. Prekäre Existenzen und zufriedener Mittelstand verschwimmen in diesen Gebieten. Und bei einzelnen Siedlungen springt einen die Tristesse an. Zum Beispiel in Steilshoop, einem Gebiet mit Bäumen und Plattenbauten, aus dem ein Fremder nicht so schnell schlau wird.
Steilshoop im Bezirk Wandsbek. Zweieinhalb Quadratkilometer groß. 19 000 Einwohner. Keine U-Bahn. Letzteres erklärt, warum Steilshoop so wirkt, als sei es mittendrin in Hamburgs Nordosten und trotzdem nicht dabei. Besuchern gibt der bunte Bahnlinien-Plan Orientierung, aber Steilshoop kommt dort nicht vor. Viele verbinden den Namen deshalb allenfalls mit Berichten über knappe Kassen und wilde Jugendliche. Selbst die Sprecherin des Bezirks Wandsbek räumt ein: "Der Stadtteil hat ein Imageproblem." Ullrich sagt: "Der Ruf ist schlecht, deshalb wollen viele schnell weg von hier." Wenn hier unter anderem ein neues Bildungszentrum namens "Campus Steilshoop" entsteht, hat das auch damit zu tun, dass die alte Stadtteilschule nicht genug Anmeldungen hat.
In Steilshoop kann man lernen, dass ein schlechter Ruf hartnäckiger ist als ein guter. Die Großsiedlung Neu-Steilshoop galt einst als letzter Schrei der Stadtentwicklung. Sie wuchs ab 1969 binnen sechs Jahren als raffiniert angeordnetes Fertigbetonparadies mit zwei Mal zehn Wohnringen, die von oben aussehen wie die Flügel eines Schmetterlings. Jeder Wohnring besteht aus unterschiedlich hohen Häusern und einem großen, grünen Innenhof. Eltern können hier vom Balkon aus ihre spielenden Kinder im Blick behalten. Ins Bild der Trabantenstadt passt so richtig eigentlich nur der ausladende Riegel aus Hochhäusern, der das Gemeindezentrum umschließt.
Das klingt gut. Aber der Reformstadtteil scheiterte zunächst. Im billigen Wohnraum zerbrach die soziale Balance. Aufsteiger gingen weg, Schlechtverdiener und Perspektivlose blieben. In den vergessenen Ecken des Betonschmetterlings blühte ihr Frust; Kulturen und Jugendbanden prallten aufeinander. Steilshoop wurde zum Inbegriff des finsteren Vielvölkerstadtteils.