Sport-Sucht:Der lange Lauf in die Abhängigkeit

Sportsüchtige verausgaben sich bis zum Umfallen - und kommen ohne ärztliche Hilfe meist nicht mehr hoch.

Charlotte Frank

Irgendwann glich ihr Leben einem dieser Laufbänder, die einem pausenlos den Boden unter den Füßen wegziehen, wenn man nicht mitläuft. Sie lief mit, sie rannte. Aber das Band, ihr Leben, raste immer schneller unter ihr weg, bis sie einfach hinten runterfiel. Und am Boden lag und nicht mehr konnte.

Jogger; ddp

Sportsüchtige laufen nicht, weil sie Spaß daran haben, sondern einem inneren Zwang nachgebend. Auf Warnsignale des Körpers hören sie dabei nicht mehr.

(Foto: Foto: ddp)

"Ich war am Ende, mir tat alles weh, aber ohne Hilfe hätte ich nicht aufhören können", erinnert sich Elisabeth H. an diesen Tag im Juli 2006. Ohne Hilfe wäre sie aufgestanden und weitergelaufen, trotz Schmerzen, trotz Krankheit, trotz besseren Wissens. "Wie es eben ist, wenn man süchtig ist", sagt sie und lächelt traurig. Elisabeth H., 25, war sportsüchtig. Jahrelang trainierte sie bis zur völligen Erschöpfung.

Nicht, weil sie so viel Spaß am Sport hatte, sondern weil sie nicht anders konnte. Wie ein Alkoholiker, der nicht aus Genuss trinkt, sondern aus einem inneren Zwang. Wenn sie müde war, ging sie trotzdem zum Joggen, zum Yoga, zum Kickboxen. Sie ging, auch wenn sie sich um ihre Familie hätte kümmern sollen, um ihre Freunde, ihren Job.

"Die Süchtigen sind besessen von dem Gedanken, sich bewegen zu müssen, sie vernachlässigen ihre Gesundheit und ihr soziales Umfeld", sagt Jürgen Beckmann, Professor für Sportpsychologie an der Technischen Universität München. Wie bei einer Droge müsse die Dosis ständig erhöht werden, denn der Körper verlange in immer größerer Menge nach dem Botenstoff Dopamin, der nach dem Sport das Gefühl von Zufriedenheit verbreitet. Dabei, sagt er, geht es Süchtigen - im Gegensatz zu Leistungssportlern - nur zweitrangig ums Trainieren. In erster Linie sei Sport in dieser Form eine Bewältigungsstrategie für tiefer liegende Probleme.

Wut, die im Körper steckt

Man kennt das nach schlechten Tagen, wenn man sich beim Tennis die Wut aus dem Körper schlägt oder schwimmt, bis die Müdigkeit das Grübeln erstickt. Diese durchaus sinnvollen Entspannungsmethoden dürfen aber nicht mit Sucht verwechselt werden, bei der das Training für die Betroffenen "zum zentralen Lebensinhalt" wird. So erklären die Psychologen Jörg Knobloch, Henning Allmer und Thomas Schack in dem Buch "Nicht nur Drogen machen süchtig" die Sportsucht. "Das sportbezogene Verhalten kontrolliert die Person, nicht umgekehrt", beschreiben sie den Zustand.

Auch Elisabeth plante ihr ganzes Leben um den Sport herum. Neben der Arbeit als Physiotherapeutin ließ sie sich zur Fitnesstrainerin ausbilden - spätestens da fiel nicht mehr auf, wie zwanghaft sie handelte. "Alle lobten, wie fit ich war und dass ich richtig aß", sagt sie. Denn das hatte sie seit der Pubertät nicht getan: richtig essen.

Mit 15 hatte es angefangen, als sie sich unglücklich und dick fühlte, als ihre Eltern sich mehr für Alkohol interessierten als für sie, als alles außer Kontrolle geriet und die Tochter möglichst weit weg geschickt wurde, in ein Internat nach New York. Als ihre Mutter entweder gar nicht ans Telefon ging oder zu betrunken war, um zu sprechen. Da entwickelte Elisabeth erst eine Mager-, dann eine Fresssucht. Jahrelang pendelte sie zwischen den Extremen.

Sport hatte sie nebenbei immer getrieben, aber erst mit 23 entdeckte sie darin die "ideale Nische", um alle Süchte und Probleme zu verstecken. "Nichts durfte mich vom Training abhalten", sagt sie, und wenn doch, wurde sie nervös und ungehalten. Entzugserscheinungen. Also stellte sie alles andere zurück und wurde im Fitnessclub zu dem, was Fachleute "permanent residents" nennen: Dauergäste, die dort den Großteil ihrer Zeit verbringen. Auf einer Tafel am Eingang begrüßten sie jeden Tag neue Motivationssprüche für Mitglieder, die sich gerne restlos verausgaben. "Ist der Geist auf ein Ziel gerichtet, kommt ihm vieles entgegen." Oder: "Wer aufgibt, wird nie ein Sieger sein." Solche Sätze. Sie hat sie wirklich geglaubt.

Der lange Lauf in die Abhängigkeit

Fit und fertig

Gerade Fitnessclubs spielen bei der Sucht eine signifikante Rolle, meint Sportpsychologe Beckmann. Durch sie habe der Fitnesswahn in den neunziger Jahren nicht nur zugenommen, er habe sich auch von den Männern verstärkt auf Frauen verlagert. Hier bekommen sie Leistungskult und körperliche Ideale präsentiert und die Mittel an die Hand, sie nachzuahmen. "Bei Männern hingegen drückt sich die Sucht eher in Ausdauersport aus", so Beckmann. Das habe in den Achtzigern mit dem Marathon-Trend begonnen und setze sich inzwischen beim Triathlon, bei Ironman- und 24-Stunden-Läufen fort.

"Selbstunternehmertum" nennt das Oliver Stoll, Professor für Sportpsychologie und -pädagogik an der Universität Halle-Wittenberg. Er sieht in der Planung eines Sportprojekts ein Mittel, das als fremdbestimmt empfundene Leben selbst in die Hand zu nehmen. Das Krankheitsbild "Sportsucht" sieht er allerdings skeptisch. "Als Einzelphänomen ist sie extrem selten", sagt er. Vielmehr sei Sportsucht in den meisten Fällen eine Ausprägung von Anorexie oder Bulimie. Statt das Gegessene zu erbrechen, würde es abtrainiert.

Auch Knobloch, Allmer und Schack setzen sich mit dem Zusammenhang von Mager- und Sportsucht auseinander und kommen zu einer Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Sportsucht: Bei der primären dient das exzessive Sporttreiben in erster Linie der Leistungssteigerung, bei der sekundären dem Abnehmen.

So ein "sekundärer" Fall ist die 31-jährige Julia aus München. Kaum jemand weiß von ihren Problemen, weshalb sie ihren richtigen Namen nicht nennen will. Sie wirkt angespannt und zerbrechlich, als sie von sich selbst erzählt, als ob sie am liebsten weglaufen würde. Was oft geschieht.

Julia geht täglich eineinhalb Stunden joggen, auch bei Regen und Schnee. "Ich plane nichts, bevor ich das nicht erledigt habe", erklärt sie. Sie sagt wirklich "erledigen", wenn sie vom Sport redet, nicht "machen" oder "treiben". Das klänge zu sehr nach Freiwilligkeit. Aber Julia macht Sport, weil sie sonst nichts essen würde. "Aber wenn ich genug gelaufen bin, kann ich später reinhauen", sagt sie. Reinhauen, das heißt für sie: mehr als eine kleine Mahlzeit am Tag. Seit sie 16 ist, lebt sie so, das ist fast die Hälfte ihres Lebens. Doch ändern will sie daran nichts. "Es geht mir gut. Ich bin fit", betont sie immer wieder. Als ob das Gesagte dadurch der Wahrheit näher käme. "Es geht mir gut. Ich bin fit."

Es sind Sätze wie diese, an denen sich auch Elisabeth H. krampfhaft festgehalten hat, bis ihre Kräfte versagten, damals, im Sommer 2006. Nach dem Zusammenbruch machte sie eine Therapie in den Vereinigten Staaten, denn dort, in Seattle an der Westküste, fühlte sie sich mit ihrer ungewöhnlichen Krankheit ernster genommen als in Deutschland. Als sie zurückkam, musste sie erst einmal lernen, ohne Sport zu leben - und überhaupt zu leben. Es dauerte fast ein ganzes Jahr. Heute hat sie es geschafft. Sie gibt kaum noch Fitnesskurse, sie hat sich verliebt und neue Freunde gefunden. Laufen geht sie nur noch, damit ihr Hund rauskommt. Aber da bestimmt sie das Tempo. Und wenn sie will, bleibt sie einfach stehen.

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