Spießer heute:Ich werd' so bleiben, wie ich bin

Spießer tarnen sich heute recht geschickt. Und doch findet man sie häufiger denn je. Zum Beispiel beim Blick in den Spiegel.

Michael Jürgs

Spießer aufzuspießen ist einfach, es ist einfach gemein und muss gemein einfach sein. Die sollen es ja auch verstehen können. Es wäre also ein spießiger Anfang, erst einmal aufzuzählen, welche Sorten von Spießern es überhaupt gibt und ob man sie an ihren Ansichten, ihrer Kleidung, ihrem Verhalten erkennen kann. Ob man also Zumwinkel bereits am Krawattenknoten hätte ansehen können, dass er nach Liechtenstein stiften ging. Das ist spießig deshalb, weil ein derartiger Einstieg ins Thema nicht überraschend wäre, sondern naheliegend, denn der typische Spießer hat ein grundsätzliches Misstrauen gegen Überraschungen.

Spießer, iStockphotos

Spießer-Klischee: Reihenhaussiedlung im Vorort

(Foto: Foto: iStockphotos)

Das Gegenteil von spießig ist cool.

Helmut Schmidt ist cool, obwohl sein Bungalow in Hamburg-Langenhorn ziemlich spießig aussieht. Zwar steckt in jedem, der über Spießer schreibt, auch ein Spießer, aber die Hölle sind ja immer die anderen. Es wäre übrigens ziemlich uncool, an dieser Stelle so zu tun, als stamme das Bild von der Hölle als Gesellschaftsordnung, die aus uns macht, was wir sind, vom Autor dieses Textes und nicht von Jean-Paul Sartre.

Dass Spießer vom Spieß kommt und vom Aufspießen, lässt sich vermuten, und siehe, es stimmt. Wenn es auf den Schlachtfeldern mal wieder gegen alte Rittersleut' ging, die hoch zu Ross im Vorteil schienen, aber eingezwängt waren in enge oder schon verrostete Rüstungen, wartete das mit Spießen bewaffnete Fußvolk auf den richtigen Moment, holte die Blaublütler vom Pferd und drehte den Spieß um. Der Adel lag vor den Bürgern im Staub. Die Spießbürger waren auf der Welt. Das war im Spätmittelalter.

Spießer in der Vergangenheit

In der Neuzeit gab es eine Epoche, in der reaktionäre Spießer 40 Jahre lang ein Land regierten, bis sie von Bürgern verjagt wurden. Typisch für Dunkeldeutschland war nicht nur die Überwachung des Alltags, weil die Spießgesellen glaubten, so vor möglichen Überraschungen gefeit zu sein, die Unterdrückung jeder unspießig frechen Meinung und cooler Lebensart.

Typisch zum Beispiel waren auch die spießigen Wünsche des obersten Politgreises nach soften Pornos auf Video, die es nur beim Klassenfeind gab, wo er sie kaufen und im deutschen Spießer-Getto Wandlitz vorführen ließ. Seine Untertanen dagegen mussten sich jahrzehntelang mit einem Kessel Buntes im Fernsehen begnügen. Was nachhaltige Folgen für ihren Geschmack hatte, wie die hohen Quoten für MDR-Unterhaltungsshows bis heute beweisen.

So weit die Historie. Bevor es persönlicher wird, müssten die wesentlichen Unterschiede zwischen artigen, gutartigen, abartigen und bösartigen Spießern geklärt werden.

Der Artige kann sein Weltbild mit Zitaten von Hermann Hesse bis Martin Luther King begründen, weiß deshalb immer, was gut ist und was böse, dass jeder einen Traum haben darf und jedem Anfang ein Zauber innewohnt, nimmt an Lichterketten mit handgedrehten Kerzen teil, spielt Blockflöte, verweist Falschparker auf die Straßen- und Verkehrsordnung, obwohl es ihn nichts angeht, fliegt in den Ferien nach Gomera, lehnt revolutionäre Veränderungen in seinem Leben wie den Wechsel von Sabine Christiansen zu Anne Will oder die Erfüllung ehelicher Pflichten am Mittwoch statt am Samstag ab, er fährt zur Fortbildung ins Weserbergland oder sogar bis nach Markkleeberg, trennt seinen Müll, plant mit vierzig den vorzeitigen Ruhestand und wickelt sein Kornbrötchen für unterwegs in die taz ein.

Lesen Sie weiter über die verschiedenen Spießer-Arten.

Ich werd’ so bleiben, wie ich bin

Spießer ist nicht gleich Spießer

Gartenzwerg, iStockphotos

Inbegriff des Spießertums: der Gartenzwerg

(Foto: Foto: iStockphotos)

Der Gutartige ist ein geselliges Wesen, klopft sich nach dummen Scherzen lachend auf die Wampe, schunkelt in Festzelten, stimmt ein, wenn Gotthilf Fischer und Günther Emmerlich, zwei Ikonen des Spießertums West und Ost, via Bildschirm zum Mitsingen deutschen Liedgutes auffordern, trägt in seiner Freizeit zum Trainingsanzug sommers offene, winters gefütterte Schläppchen, macht Campingurlaub an der Ostsee, kennt seine Rechte auf dem Stellplatz, holt vorsichtshalber die deutsche Flagge bereits ab Windstärke 4 vom Mast, besitzt eines jener Nur-Dach-Zelte, wie sie links und rechts neben den Gleisen in Schrebergärten ganzjährig zu sehen sind, lädt zum Grillen ein und wickelt anschließend die Knochenreste in die Bild.

Der Abartige ist seit dem Mauerfall beleidigt, weil er nichts mehr anordnen kann, allenfalls darf er Ex-Stasi-Kumpel auf ein Bier in den Plattenbau befehlen, er bevorzugt Schuhe mit Kreppsohlen, lange Unterhosen und graue Windjacken, schaut bei anderen Leuten durchs Fenster, wenn er nachts seinen Hund ausführt, züchtigt seine Kinder, erteilt seiner Frau mitunter das Wort, wählt das, was er immer schon gewählt hat, und packt seine Wurstbrote ins Neue Deutschland, bevor er auf Schnäppchenjagd in den Baumarkt fährt.

Der Bösartige ist genetisch ein Feigling, der den Starken gibt, falls keine Stärkeren in der Nähe sind, lehnt Döner und Cheeseburger aus ideologischen Gründen ab, tritt mit gleich Gesinnten aus NPD oder DVU vor allem in Sachsen und Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern auf, wäre statt Hausmeister lieber Aufseher oder, besser noch, Wärter in einem Erziehungslager für jugendliche Straftäter, verkratzt auf dem Heimweg vom Kameradschaftstreffen den Lack von Autos, die er sich nicht leisten kann, schlägt auch fremde Kinder und nicht nur die eigenen, pisst in Fußballstadien unter ihm Stehende an, lacht sich dabei ins geballte Fäustchen, hält Bücher für die Äste von Buchen, würde alles tun, was man ihm befiehlt, falls der rechte Richtige käme - und er wickelt kalte Koteletts in die Junge Freiheit ein.

Spießer international

Das sind, grob geschüttelt und so im Sieb hängen geblieben, vier wesentliche Kategorien des allgemeinen Spießers. Es gibt noch viele mehr.

Zum Beispiel den gemeinen deutschen Steuerbetrüger, eine besondere Form des Spießers, der mit Schwarzgeld zum Winkel in die Berge flüchtet, es gehören Frauen dazu, ihr Anteil am Spießertum entspricht etwa ihrem Anteil in der Gesamtbevölkerung. Der Begriff Spießerin hat sich nie durchsetzen können, weil Gleichberechtigung in spießigen Kreisen des Teufels ist, erfunden von der coolen Alice Schwarzer, um Männer aufzuspießen oder als Spießgetriebene zu verhöhnen. Äußerlich sind in allen Kategorien außer den bekannten kleinen kaum Unterschiede zwischen Spießerinnen und Spießern festzustellen, von Kniestrümpfen in Sandalen bis zur gestählten Dauerwelle, vom Arschgeweih bis zur geschlossenen Plisseebluse.

Und übrigens: Nein, Spießer sind kein deutsches Phänomen. Als Genre der philistins leben sie, mal Hutmacher, mal Schlachter, diesseits der Weltbürgermetropole Paris in französischen Provinzstädten, was Claude Chabrol in vielen Filmen gezeigt hat. Britische Spießer, da Fuddy-duddys genannt, lungern in englischen Seebädern herum und schlingen aus Papiertüten Fish-and-Chips runter.

In der Schweiz sind Spießer gut gekämmt unter den Wählern Christoph Blochers anzutreffen, da nennt man sie Füdlibürger oder Bünzlis. Ein Dorado für Spießer aller Art sind Biotope in Österreich, wo 1938 zur Begrüßung eines abartigen Spießers dreihunderttausend Wiener ,,Heil'' brüllten —was ihnen nun mal Millionen deutscher Volksgenossen vorgemacht hatten —, anschließend Bürger jüdischen Glaubens Spießruten laufen ließen, aber seit Kriegsende behaupten, sie seien Opfer, und ihr Landsmann Adolf Hitler sei sowieso auch ein Deutscher gewesen.

Der ungewöhnlichste deutsche Spießer ist ein Ossi. Er kam 1994 in Dresden auf die Welt. Zwei Schüler, damals siebzehn, sind seine Eltern. Sie starteten den Spießer mit einer Auflage von 5000 Exemplaren, finanziert durch Anzeigen, verteilten das Blatt kostenlos an den Schulen der Stadt. Fünf Jahre später waren es aufgrund der Nachfrage an vielen Schulen des Landes siebzigtausend Spießer, die gedruckt wurden. Seit September tritt dieser Spießer auch fünfmal jährlich im Westen auf. Nach wie vor kostet er nichts, nach wie vor bietet er hauptsächlich Lebenshilfe für die jugendliche Zielgruppe, die aber cool ist und nicht spießig, nach wie vor wird er durch Werbung finanziert. Die Auflage beträgt eine Million. Tja, ex oriente kommt tatsächlich manchmal lux.

Auf der nächsten Seite erfahren Sie, dass Spießer keine Pfennigfuchser sein müssen.

Ich werd’ so bleiben, wie ich bin

Sonnenschirm, Alexander Gorkow

Dicke Amerikaner am Strand

(Foto: Foto: Alexander Gorkow)

Reiche Spießer?

Selbstverständlich nisten Spießer ebenso unter Schichten der Reichen und Schönen und Mächtigen, nicht nur bei den endlich verdächtigen Gierlappen auf der Vaduzer CD. Äußerer Schein täuscht nur dadurch anderes Sein vor, weil Spießertum mit Mief, Ärmelschonern und verklemmter geistiger Beschränktheit assoziiert wird - aber dieser Schein täuscht! Eigenheiten, Eigenschaften, Verhalten von artigen, abartigen, gutartigen Spießen sind in beiden Klassen identisch, treten allerdings in unterschiedlichen Kostümen auf. Bei den einen steht die Bühne auf der Kirmes, bei den anderen auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Aus juristischen Gründen dürfen aber nur dann Namen genannt werden, falls diese in Fragen an die Leser verpackt werden.

Ist Wolfgang Tiefensee ein artiger Spießer, weil er seine Freundin für die Fotografen beim Bundespresseball auf den Schoß nimmt, statt sich als Gentleman zu benehmen? Ist Peter Hartz ein abartiger Spießer, weil er diverse Liebesdienste selbst bezahlt hat, statt wie der ehemalige VW-Betriebsratchef Klaus Volkert die Geliebte der Firma in Rechnung zu stellen? Ist Dieter Bohlen ein gutartiger Spießer, weil er singenden Kindern alle Träume zerstört, statt ihnen falsche Hoffnungen zu machen?

Nebenformen des Spießertums

Neben den genannten Arten gibt es viele Untergruppen. Beispiele: Den moralischen Spießer, der dem amtierenden Niedersachsen dessen schwangere Freundin zum Vorwurf macht. Den scheinheiligen Spießer, der samt Gattin die Christmette besucht und danach der Geliebten eine Weihnachtsbotschaft per SMS schickt. Die muttertierige Spießerin, die wortreich und spracharm den Evas empfiehlt, ihre Adams anzuhimmeln, sobald sie in die Haustür treten. Den gierigen Spießer, der einen Konzern kaputtmanagt, Millionen Euro Abfindung kassiert und die Bezahlung von Überstunden seines Chauffeurs einklagt, der ihn immer noch ins Jagdrevier fahren muss.

Man ist von Spießern nicht nur umgeben, man sieht leider auch täglich beim Blick in den Spiegel einen. Das gibt niemand zu und erfindet deshalb einfach andere Begriffe für das im Wesen Gleiche. Die spießige Vorstellung vom Glück auf Dauer wird umschrieben als unerfüllte Sehnsucht. Der spießige Wunsch nach festem Boden unter den Füßen heißt notwendige Bodenhaftung. Der spießige Urlaub in Gomera wird als Ausflug ins einfache Leben verzeichnet. Die spießige Frühberechnung der Rente ist eine weise Vorsorge fürs Alter. Und so weiter.

Bei solchem Hochmut erwacht des wahren Spießers wunder Zorn, denn in des Knaben Wunderhorn haben Clemens Brentano und Achim von Arnim was noch mal gesammelt? Deutsche Volkslieder. Spießer!

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