Kongress der Straßenkinder:Mein Hund, mein Schlafsack, mein Lutscher

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Straßenkinder aus ganz Deutschland tauschten sich am Wochenende in Berlin mit Sozialexperten aus. (Foto: Wolfgang Kumm/dpa)
  • Beim zweiten Bundeskongress der Straßenkinder tauschen sich junge Obdachlose aus. Sozialarbeiter und Politiker hören zu.
  • Die Ämter sind flexibler geworden. In Brandenburg durften sich die Jugendlichen sogar einen alten Bahnhof ausbauen.
  • Andere Probleme sind geblieben. Viele Betroffene landen "in zwanghaften Beziehungen mit Erwachsenen, die sie sexuell ausbeuten".

Von Verena Mayer, Berlin

Chiara ist 17 und hat einiges hinter sich. Gewalt durch den Vater, Amphetamine, Alkohol. Zu ihrer Mutter hat sie keinen Kontakt, die Schule hat sie geschmissen. "Alles nicht so schön", sagt Chiara. Sie ist groß, mit dunklen Locken, ihren Beutel hat sie fest um den Bauch geschnallt. So wie früher, als sie auf der Straße lebte und nicht noch das Letzte verlieren wollte, ihr Handy, die Ausweise, das bisschen zusammengeschnorrte Geld. Chiaras Geschichte ist ungewöhnlich für ein Mädchen, das noch nicht mal volljährig ist. Aber sie ist typisch für die Jugendlichen, die in Deutschland auf der Straße landen. 21 000 sind es, 7000 von ihnen haben nicht mal einen Schlafplatz, an dem sie nachts unterkriechen können.

Jetzt holt Chiara einen Zettel hervor und beginnt, mit stockender Stimme vorzulesen. Die Zeile von Herbert Grönemeyer, die sie so gern mag: "Mein Ass im Ärmel ist durchnässt. Mein Ass im Ärmel ist mein letzter Rest." Dass sie "vor Lieblosigkeit, Gewalt und Missbrauch geflohen sei" und deswegen hier stehe. "Ich will etwas sagen, weil ich eine Erwachsene von morgen bin." Eine große Bühne hat Chiara schon, in einer Mehrzweckhalle in Berlin. Hier findet am Wochenende der "Bundeskongress der Straßenkinder" statt. Es ist schon der zweite, der sich mit der Situation von Jugendlichen beschäftigt, die auf der Straße leben. Hunderte Leute hören Chiara zu, Sozialarbeiter, Vertreter von Ämtern, Bundesjugendministerin Manuela Schwesig (SPD) ist auch gekommen.

Die Berliner Wuhlheide, ein riesiges Areal aus Spielplätzen, Veranstaltungsorten und Wiesen, auf denen Leute trommeln und Eltern mit ihren Kindern unterwegs sind. Eine heile Welt, die so gar nichts mit dem Leben derer zu tun hat, die zum Straßenkinderkongress in diese Ecke der Hauptstadt gekommen sind. Sie heißen Anni, Laura, Katrin, Lukas, Nadja, Daniel, Antje oder eben Chiara, sie sind aus Dresden, Hamburg, Gera, Bochum, München oder Stuttgart. Jetzt sitzen sie in Grüppchen auf dem Boden, manche haben einen Hund dabei, die meisten ihre Schlafsäcke. Und alle haben die Lutscher im Mund, die auf den Tischen ausliegen. So, als wollten sie so viel Süße, so viel Kindheit wie möglich aufsaugen.

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Antje, 35, nennt sich selbst "Pionierin". Sie ist Altenpflegerin und hat drei Kinder, aber in den 90er-Jahren lebte sie in Köln auf der Straße. Damals war sie 13 und litt unter dem Borderlinesyndrom. Mehr will sie nicht über ihre Vergangenheit erzählen, die wenigsten hier wollen viel erzählen. Nur eines noch, sagt Antje: In einem Winter sei es so kalt gewesen, dass einige ihrer Freunde auf der Straße erfroren.

Antje selbst hatte genau zwei Möglichkeiten: geschlossenes Heim oder zurück zu den gewalttätigen Eltern. Seither habe sich einiges verändert, sagt Antje. Die Ämter seien flexibler geworden, es gebe im ganzen Land Einrichtungen für Straßenkinder und Süchtige. Im brandenburgischen Jamlitz haben Jugendliche von der Straße sogar einen alten Bahnhof ausgebaut und leben jetzt dort. Aber das Problem gibt es natürlich immer noch. Antje sagt: "Dass ich nach 20 Jahren noch immer hier stehe, ist schon traurig."

Jörg Richert ist Geschäftsführer des Vereins Karuna, der Wohngruppen, Schlafplätze und eine Schule betreibt. Er kennt die Szene seit der Wende. Früher seien die Jugendlichen, wenn sie von zu Hause wegliefen, noch in besetzten Häusern untergekommen. Heute tauchten sie ganz ab oder landeten "in zwanghaften Beziehungen mit Erwachsenen, die sie sexuell ausbeuten". Er sehe viele Selbstverletzungen, sagt Richert, die meisten Jugendlichen hätten vom Ritzen aufgeschnittene Arme.

Er glaubt, dass in Deutschland ein Modell wie das in Dänemark fehlt: Dort heißt es "Housing first", Straßenkinder bekommen erst mal eine Bleibe. Bei uns hingegen würden Wohnungen meistens an Bedingungen wie eine Drogentherapie geknüpft.

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Auf Pappschilder in der Halle sind Dinge wie "Schule und ich" oder "Notschlafstelle oder Wohnung?" gekritzelt. Tatsächlich haben die Jugendlichen oft sehr praktische Sorgen. Ein Mädchen sagt, das Leben auf der Straße sei teurer als in einer Wohnung, weil man nichts kochen könne, sondern immer Fertiges kaufen müsse. Ein Junge erzählt, dass er bald ins Gefängnis müsse, weil er die Strafe für 28 Anzeigen nicht zahlen könne. Die hat er bekommen, weil er, wie viele Straßenkinder, schwarzgefahren ist. Anders hätte er sich in der Stadt nicht bewegen können. Und da seien noch all die Leute, die "uns als Penner, Schmarotzer, Assis oder Punks beschimpfen", sagt ein junger Mann namens Lukas. Immerhin, untereinander halte man zusammen. "Unser eigenes Ich haben wir vielleicht nicht gefunden, aber wir fanden uns."

Die Organisatoren haben auch einige Dutzend Flüchtlingskinder in die Wuhlheide eingeladen. 22 000 minderjährige Flüchtlinge sind in diesem Jahr schon ohne Familie nach Deutschland gekommen - in den Einrichtungen der Jugendhilfe treffen sie oft mit den Straßenkindern zusammen. Auch für die jungen Flüchtlinge ist es derzeit schwer, unterzukommen. In Berlin sind die vorgesehenen Quartiere voll, viele Jugendliche werden in Hostels gesteckt. Und ein Junge, der schon in Syrien auf der Straße lebte, tut dies nun auch in Berlin.

Am Ende der Konferenz steht die Erkenntnis, dass sich die typischen Geschichten von Straßenkindern über die Jahrzehnte verändert haben. Aber dass sie heute ganz sicher nicht weniger traurig sind.

© SZ vom 28.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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