Sorgerechtsentzug:Wenn Mütter und Väter versagen

Lesezeit: 2 min

Im vorigen Jahr ist die Zahl der Sorgerechtsentzüge erstmals seit langem leicht gesunken. Die Richter sind skeptisch.

Felix Berth

Die Zahl der Sorgerechtsentzüge ist erstmals seit langem leicht gesunken. Im Jahr 2009 entschieden die Familiengerichte 12 164 mal, Eltern das Sorgerecht zu nehmen, weil sie ihre Kinder misshandelt oder gefährdet hatten. Im Jahr 2008 hatte es noch 12 244 solcher Fälle gegeben. Das entspricht einem Rückgang um 0,7 Prozent. In den Jahren zuvor war die Zahl der Sorgerechts-Entzüge stets stark gestiegen.

Die sinkende Zahl der Sorgerechtsentzüge hat mehrere Ursachen: Jugendämter sind vorsichtiger geworden, Richter skeptischer. (Foto: AP)

Eine Umfrage der Süddeutschen Zeitung bei den 16 statistischen Landesämtern zeigt, dass die Sozialbehörden zwar mit weiter steigender Tendenz dafür plädieren, gefährdete Kinder von ihren Eltern zu trennen. In mehr als 15 000 Fällen forderten Jugendämter einen Sorgerechtsentzug; das waren gut zwei Prozent mehr als im Vorjahr. Doch offenbar reagieren die Familiengerichte, die über die Anträge entscheiden müssen, inzwischen skeptischer. Während sie vor einigen Jahren fast alle Anträge akzeptierten, lehnen die Richter inzwischen jeden fünften ab. Im Jahr 2009 wiesen sie insgesamt 3110 Anträge der Jugendämter zurück - mehr als je zuvor.

Die Entwicklung hat mehrere Ursachen. So sind Jugendämter vorsichtiger geworden. Sie achten - auch nach dem öffentlichen Entsetzen über Kindstötungen - stärker auf eventuelle Gefährdungen der Kinder. Dazu kommt die Angst vor öffentlicher Kritik oder einem Strafverfahren. Die meisten Sozialarbeiter beobachteten in den letzten Jahren, dass Staatsanwälte in Einzelfällen nicht nur gegen misshandelnde Eltern ermittelten, sondern auch gegen die zuständigen Behörden. "Wenn Eltern ein Kind getötet haben, wird der Skandal beim Jugendamt gesucht, um schnell einen Schuldigen zu finden", sagt der Berliner Sozialarbeiter Klaus Wörsdorfer-Kaiser, der seit mehreren Jahren die Berichterstattung über Kinderschutz beobachtet und eine "Standardfrage der Medien" ausgemacht hat: "Was wusste das Jugendamt?"

Beides zusammen - Wachsamkeit für die Not der Kinder sowie Angst vor öffentlichen Anklagen - führt dazu, dass Sozialarbeiter in den Jugendämtern häufiger einen Entzug des Sorgerechts beantragen. Aus den gleichen Gründen nehmen die Ämter immer mehr Kinder in ihre Obhut: Im Jahr 2009 waren es 34000 Kinder, etwa vier Prozent mehr als im Vorjahr, wie das Statistische Bundesamt am Dienstag meldete.

Die Richter beobachten diese Tendenzen mit Skepsis. So rügte das Bundesverfassungsgericht in den vergangenen Monaten dreimal, dass Jugendämter das Recht der Eltern "auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder" missachtet hätten. "Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern berechtigt den Staat, die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen", schrieben die Verfassungsrichter in einer Entscheidung vom Januar 2010 (1 BvR 1941/09). Zwei ähnliche Entscheidungen betonen, dass der Staat nur in Extremfällen eingreifen darf: "Das elterliche Fehlverhalten muss ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleib in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist." (1 BvR 374/09).

Die strengen Urteile des Bundesverfassungsgerichts verpflichten die Jugendämter, vor einem Antrag auf Sorgerechtsentzug umfassend zu ermitteln und eine Gefährdung des Kindes detailliert zu belegen. "Auch Amtsrichter werden diese Urteile als Mahnung lesen, einen Entzug des Sorgerechts genau zu prüfen", sagt Isabell Götz vom Deutschen Familiengerichtstag. Dass die Zahl der Sorgerechtsentzüge derzeit nicht weiter steigt, dürfte einen weiteren Grund haben: Seit Mitte 2008 können Familienrichter Eltern einbestellen, um mit ihnen "eine mögliche Gefährdung des Kindeswohls" zu erörtern. Dieses Gespräch gibt ihnen die Möglichkeit, Eltern zu ermahnen, ohne ihnen gleich das Sorgerecht zu nehmen.

Insgesamt allerdings, das zeigen die neuen Daten, bleibt die Zahl der Sorgerechtsentzüge auf hohem Niveau. Im Jahr 2009 wurden etwa 50 Prozent mehr Kinder aus ihren Familien herausgenommen als noch im Jahr 2003.

© SZ vom 15.07.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: