Süddeutsche Zeitung

Sorge vor Statusverlust:Wo ist die Mittelschicht?

Früher war die deutsche Mittelschicht eine feste Größe in der Gesellschaft. Heute ist sie von Ängsten getrieben und fühlt sich wie in einem Kafka-Roman. Woran liegt das?

Schon Franz Kafka hatte dieses merkwürdige Gefühl, seinen Platz noch nicht gefunden zu haben. "Ich stehe auf der Plattform des elektrischen Wagens und bin vollständig unsicher in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt, in dieser Stadt, in meiner Familie": So beginnt seine berühmte Erzählung der "Der Fahrgast". Unsicherheit und Zukunftsangst sind auch heute verbreitet, besonders bei jenen, die sich weder ganz oben noch ganz unten befinden und das Gefühl haben, irgendwo dazwischen zu sein.

Wer zählt eigentlich laut Statistik zu diesen Zweiflern und Grüblern? Die Wissenschaftlerin Judith Niehues vom Kölner Institut der deutschen Wirtschaft setzt die Zugehörigkeit zur oberen Mittelschicht bei einem Monatseinkommen von 2600 Euro netto an; ein Paarhaushalt mit zwei Kindern und den gleichen Einkünften gehört hingegen zur einkommensschwachen Schicht.

Aber kann man überhaupt so einfach sagen, was heute noch "Mittelschicht" ist und was prekäre Verhältnisse sind? Schriftsteller Gerhard Henschel hat sich umgehört, bei Menschen, die alle eher in kreativen Berufen arbeiten, aber oft keine Festanstellung mehr haben und im Alter mit eher kargen Rentenzahlungen rechnen müssen. Eine freie Lektorin berichtet: "Ein Großteil meiner Energie fließt in die mühsame Aufrechterhaltung des Status quo - ökonomisch und physisch. Wenn gerade Letzteres erst mal zur Disposition steht, kann ich eigentlich für nichts mehr garantieren."

Henschel erzählt von Übersetzern, der früher fünf Seiten übersetzen mussten, um über die Runden zu kommen, und heute eigentlich sieben oder zehn Seiten bräuchten, um die Steuern zu bezahlen. Oder von anderen Freiberuflern, die froh sein müssen, wenn sie einen Partner mit Festanstellung finden, einen Rechtsanwalt oder eine Zahnärztin - anders würden sie ins finanzielle Chaos abrutschen.

Auf der anderen Seite sind die Ansprüche dieser meist gut ausgebildeten Menschen noch immer hoch, und so schlagen sich viele durch, indem sie noch mehr arbeiten, auch um die steigenden Mieten in den Großstädten bezahlen zu können. Vorbei die Zeiten, als die deutsche Mittelschicht eine feste Größe war und sich auch über gemeinsame Werte definierte. "Zweistellige Wachstumsraten, Vollbeschäftigung und der Sexy-Mini-Super-Flower-Pop-up-Cola-Hedonismus der Babyboomer - das ist alles so unwiederbringlich dahin wie die selige Rama-Familie, die noch ohne Scheidungsanwälte, Umfangspfleger, Prozesskostenhilfe und berufliche Umschulungen ausgekommen war."

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