Sophie Calle über:Privatsphäre

Eine der bekanntesten Künstlerinnen Frankreichs spielt oft mit den Grenzen des Privaten. Sie selbst lebt jedoch versteckt hinter einer hohen Mauer. Mit vielen ausgestopften Tieren.

Interview von Julia Rothhaas

Sophie Calle ist eine der bekanntesten zeitgenössischen Künstlerinnen Frankreichs. Die 62-Jährige spielt immer wieder mit den Grenzen des Privaten: Sie spioniert Fremde aus, verfolgt sie, durchwühlt ihre Sachen. Gleichzeitig macht sie auch Intimes aus ihrem eigenen Leben zur Kunst. Calle selbst lebt in einer Art Gartenhaus versteckt hinter einer hohen Mauer im Süden von Paris. Mit einem Haufen ausgestopfter Tiere.

SZ: Frau Calle, eines Ihrer erfolgreichsten Werke war ein Film über das Sterben Ihrer Mutter. Sie haben während ihrer letzten Monate eine Kamera neben ihrem Bett aufgestellt. Was macht aus Sterben Kunst?

Sophie Calle: Ich wollte eigentlich keinen Film drehen, sondern nur sichergehen, während dieser Zeit nichts zu verpassen. Meine Mutter hätte mir noch etwas Wichtiges sagen können, und ich wäre vielleicht in dem Moment nicht im Zimmer gewesen. Ich wollte dabei sein, wenn sie ihren letzten Atemzug macht. Man weiß ja nie, ob das nachts oder tagsüber sein wird.

Warum haben Sie das Material dann doch veröffentlicht?

Ich erzählte dem Direktor der damaligen Biennale, Robert Storr, davon. Er schlug vor, eine Arbeit daraus zu machen. Ich lehnte erst mal ab, aber zwei, drei Monate nach ihrem Tod ließ ich mich doch darauf ein. Von den vielen Hundert Stunden Film habe ich mir nur die letzte Stunde angesehen. Da bemerkte ich etwas Seltsames. Es gibt diese elf Minuten, in denen sie irgendwo zwischen Leben und Tod schwebt, sie war in einem Niemandsland. Obwohl ich mit ihr in einem Raum war, habe ich nicht mitbekommen, wann sie genau während dieser elf Minuten starb.

Haben Sie Ihre Mutter gefragt, ob Sie eine Kamera aufstellen dürfen?

Als ich ihr von meinen Plänen erzählte, sagte sie: endlich! Ich habe das also nicht gegen ihren Willen gemacht, sondern mit ihr zusammen - und es hat sie wohl gefreut, dass ich mich ihr gewidmet habe. Das Gleiche hätte ich mit meinem Vater, der in diesem Jahr gestorben ist, nicht wiederholen können, das wäre ein aggressiver Akt gewesen. Er war ganz anders als meine Mutter, viel privater, diskreter, und schüchtern. Für meine Mutter war es befriedigend.

Wie haben Familie und Freunde auf Ihren Film reagiert?

Als ich die Kamera aufstellte, musste ich niemanden um Erlaubnis fragen, meine Mutter lebte schließlich noch. Und sie war die Einzige, die gefilmt wurde. Bevor ich den Film in Venedig zeigte, fragte ich jedoch meinen Halbbruder und zwei, drei enge Freundinnen meiner Mutter, ob sie etwas dagegen haben. Sie sagten, meine Mutter hätte das so gewollt.

Stehen Ihnen Moral oder die Frage nach der Achtung von Intimsphäre bei Ihrer Arbeit manchmal im Weg?

Darüber mache ich mir keine Gedanken. Wenn ich mich zu etwas entschließe, zeige ich es auch. Verspüre ich im Nachhinein Schuld, ist das mein Problem, nicht Teil der Kunst. Das geht niemanden etwas an.

Oft geht es in Ihrer Kunst auch um Ihr eigenes Leben. Wie schützen Sie sich?

Mein Privatleben ist immer noch privat. Ich gebe nur einen Moment davon an die Öffentlichkeit. Ich verrate nicht, was davor oder was danach passiert ist. Auch wenn ich die Wahrheit erzähle, auch wenn es wirklich passiert ist, so gibt es doch keinen Kontext. Niemand kennt mein Leben. Ich habe mir zum Beispiel für ein Projekt von mehr als hundert Frauen einen echten Brief vorlesen lassen, in dem ein Mann mit mir Schluss macht. Na und? Das heißt noch nicht, dass irgendjemand etwas über mein Leben weiß. Nur, dass ich mal mit einem Mann zusammen war und dass diese Beziehung auseinandergegangen ist. So etwas passiert etwa 99 Prozent der Leute, die in der U-Bahn sitzen. Aber ich hoffe, dass ich damit Kunst mache - und nicht meine Lebensgeschichte erzähle.

FRANCE. Paris. May 2011. Sophie Calle in her house.

"Ich habe keine Kinder, meine Eltern sind tot, die Katze auch. Ich bin das erste Mal frei."

(Foto: Alex Majoli/Magnum Photos/AG)

Sie ließen sich diesen Abschiedsbrief Ihres Ex-Freundes von einer Juristin, einer Psychologin, einer Sprachwissenschaftlerin und vielen anderen Frauen immer wieder vorlesen.

Ich versuche, mich durch die Wiederholung vom Schmerz zu distanzieren. Das beginnt in dem Moment, in dem man sich dazu entschließt, daraus eine Arbeit zu machen. Je mehr Frauen mir den Brief vorgelesen haben, desto weiter weg war das Ganze. Es war nicht mehr mein Brief, sondern ein Objekt - ganz ohne persönlichen Teil.

Oft geht es in Ihrer Kunst um das Privatleben von Fremden. Zum Beispiel, als Sie ein Adressbuch auf der Straße fanden und alles über den Besitzer herausfinden wollten. Heute könnte man die Hälfte dessen, was Sie über ihn erfahren haben, einfach googeln. Ist das Internet ein Spielverderber?

Nein, ich suche nicht nach Menschen im Netz. Für mich ist das keine instinktive Handlung. Vielleicht bin ich nicht mehr jung genug dafür. Wenn ich jemanden google, dann ist er meistens schon tot, und ich will wissen, wann er genau gestorben ist. Nach mir selbst habe ich nur ein, zwei Mal gesucht. Das, was ich über mich gefunden habe, war so deprimierend! Weil die Leute urteilen, ohne meine Kunst je gesehen zu haben.

Kam es je zu Beschwerden, weil Sie sich ungefragt dem Privatleben irgendeines Fremden näherten?

Ich nötige ja niemanden. Und meistens willigen die Menschen auch ein, mit denen ich spreche. Nur der Mann, dessen Adressbuch ich auf der Straße fand, beklagte sich danach in einer Zeitung über mich. Ich hatte all seine Freunde über ihn ausgefragt. Doch er mochte nicht, was sie über ihn sagten. Das war das einzige Mal in meiner Karriere, dass ich dachte: Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen. Gleichzeitig würde ich es wieder tun, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte. Einfach, weil ich diese Arbeit mag und weil es Spaß gemacht hat. Ich fühle mich nicht schuldig.

Hat Sie die Reaktion überrascht?

Ja. Ich habe einen Monat lang seine besten Freunde interviewt. Alle - außer zwei - sagten, wir machen da gerne mit, denn er wird das lieben. Ich begann von ihm zu träumen: Ich mochte seine Freunde, seine Wohngegend, seinen Geschmack. Ich mochte einfach alles, was ich über ihn in Erfahrung bringen konnte. Also habe ich mich aus der Distanz wirklich in ihn verliebt. Ich war sicher, dass er mir in die Arme fallen und es zu einer wunderbaren Liebesgeschichte kommen würde. Mit dem Gegenteil habe ich nicht gerechnet. Mich überraschte am Ende aber nicht so sehr die Tatsache, dass er sich beschwerte, sondern dass alle seine Freunde die Situation so falsch eingeschätzt hatten.

Auch aus Ihrem Geburtstag haben Sie eine Installation gemacht. Alle Geschenke der Gäste wurden über Jahre gesammelt und unausgepackt in Vitrinen ausgestellt. Die Einsamkeit, die Angst, vergessen zu werden, taucht immer wieder auf.

Ich denke darüber nicht nach, ich analysiere es nicht, ich gehe nicht zum Psychiater und ich folge keinem Muster. Manchmal habe ich einfach das Glück, eine Idee zu haben. Dann wird daraus eine Arbeit, die an der Wand hängt oder sich in einem Buch wiederfindet. Und manchmal ist es eine Idee, deren Umsetzung das Ganze nur verarmen würde.

Zur Person

Sophie Calle, geboren 1953 in Paris, ging nach der Schule auf eine siebenjährige Weltreise und arbeitete als Barfrau, Hundedompteurin im Zirkus und Stripteasetänzerin. Nach ihrer Rückkehr verfolgte und fotografierte sie Unbekannte für ihr erstes Kunstprojekt. Immer wieder beschäftigt sie sich mit eigenen und fremden Biografien, etwa wenn sie als Zimmermädchen in Venedig im Besitz der Gäste herumschnüffelte oder ein Roadmovie über eine Reise mit ihrem Ex-Partner drehte. Sophie Calle ist eine der bekanntesten Konzeptkünstlerinnen weltweit und lebt in Malakoff, einem Vorort von Paris, und New York.

Ihre Eltern trennten sich, als Sie zwei waren. In einem Interview sagten Sie einmal, Sie hätten sich nie komplett gefühlt . . .

. . . nicht komplett? Das habe ich gesagt? Aber das stimmt nicht. Ich bin bei meiner Mutter groß geworden und habe meinen Vater am Wochenende gesehen. Es waren andere Zeiten, nicht so wie heute, wenn Kinder drei Wochen bei dem Vater und drei Wochen bei der Mutter sind. Meine Kindheit war so wie bei allen Kindern, die in Scheidungsfamilien groß werden.

Sie fingen mit der Kunst an, um Ihren Vater zu beeindrucken.

Mehr noch: Ich wollte ihn damit verführen. Ich war 25, da kam ich nach sieben Jahren Weltreise nach Frankreich zurück und wollte etwas tun, das er gutheißen würde. Mein Vater war Kunsthändler, da lag das mit der Kunst auf der Hand. Ich wollte, dass er stolz auf mich ist.

Wie reagierte Ihre Mutter?

Sie nahm das nicht so ernst. Insgesamt hat sie sich nie groß für meine Arbeit interessiert. Als sie mich zu meiner Ausstellungseröffnung im Museum Of Modern Art in New York begleitete, sagte sie: "Du hast all diese Menschen wunderbar an der Nase herumgeführt." Sie tat so, als hätte ich es besonders geschickt angestellt, nicht nur all die Besucher anzulocken, sondern auch noch Geld damit zu machen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ich interessant genug sein könnte. Ich musste sehr bekannt werden, damit sie aufhörte, sich darüber zu wundern. Meine Mutter war sehr schlau und gebildet, aber mit Konzeptkunst konnte sie nur wenig anfangen.

Es gibt diese Geschichte, dass Ihre Großeltern Sie mit 14 Jahren zum Schönheitschirurgen schickten, um Ihre Nase richten zu lassen. Zu der Operation kam es aber nicht, weil sich der Arzt kurz vorher das Leben nahm. Ist das wirklich so passiert?

Ja. Aber es ist so, wie ich sage: Man nimmt ein bisschen Wahrheit und arbeitet damit. Die Dinge werden zur Fiktion, weil ich versuche, daraus einen Text zu machen.

Wie haben Sie von den Plänen der Großeltern erfahren?

Na ja, ich war schon beim Arzt und bekam Linien in mein Gesicht gezeichnet, die zeigen sollten, was man besser machen kann. Aber was soll daran so besonders sein? Viele Leute sind schon damals zum Schönheitschirurgen gegangen.

Aber ein 14-jähriges Mädchen? Warum?

Weil ich eine große Nase habe?

Wie wirkt das auf einen Teenager, wenn die eigenen Großeltern etwas an einem korrigieren lassen wollen?

Keine Ahnung. Ich war 14 Jahre alt. Ich weiß nicht mal mehr, was ich vor zwei Tagen gemacht habe.

Ist Einsamkeit gut oder schlecht für Ihre Kreativität?

Ich brauche keine Einsamkeit für meine Arbeit, wenn Sie das meinen. In diesem Winter verbringe ich einige Monate in Kalifornien, und das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich wirklich frei bin. Ich bin nicht verheiratet und habe keine Kinder. Meine Mutter ist tot, mein Vater ist tot. Sogar meine Katze ist gestorben. Mein Leben ist leichter geworden. Ich habe keine Verpflichtungen mehr. Soll ich Ihnen noch etwas Lustiges erzählen?

Aber gern.

Ich wollte mir ein Grab in Montparnasse kaufen, da liegen auch meine Eltern. Früher konnte man das schon vor seinem Tod kaufen, heute leider nicht mehr. Das bedeutet also auch: Ich kann nichts vorbereiten, keine Skulptur, keinen Stein und auch kein Ritual, das sich dort jedes Jahr nach meinem Tod wiederholen soll. Ich will nicht in dasselbe Grab wie mein Vater, in dem liegt irgendwann ja auch seine zweite Frau. Und ich will nicht zu meiner Mutter, denn wenn ich darauf etwas installieren möchte, wäre es nicht mehr ihr Grab, sondern meins. Das wäre unfair. Also habe ich in einem Dorf in Kalifornien vor zwei Jahren ein Grab für mich gekauft. Da kann ich machen, was ich will. Ich hatte großes Glück: Es war der letzte freie Platz.

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