Sinn und Unsinn:Wie das Kino zur Therapie eingesetzt wird

Paris Texas

Der Psychotherapeut Otto Teischel nutzt Kinofilme für seine Arbeit. Inspiriert hat ihn der Film "Paris, Texas" von Wim Wenders.

(Foto: picture-alliance / obs)

Filme sprechen Gefühle, Sorge und Ängste an und können außerdem als Stimmungsaufheller wirken. Eine Psychotherapeut in Österreich nutzt das für seine Behandlungen.

Von Susan Vahabzadeh

So ziemlich jeder hat schon einmal eine Komödie als Stimmungsaufheller benutzt, oder sich das eigene Leid von der Seele geheult, stellvertretend für die Figuren auf der Leinwand. Wir nehmen im Kino für ein paar Stunden am Leben anderer teil, und man lernt dabei etwas über sie - aber wir lernen auch immer etwas über uns. Film ist eigentlich immer und von Haus aus Therapie.

Dr. Otto Teischel, geboren 1953 in der Nähe von Hannover, praktiziert als Psychotherapeut in Klagenfurt, und er hat die Sache, sagt er, "professionalisiert". Er setzt Filme ein. Bei der Gruppentherapie, manchmal auch bei der Behandlung eines einzelnen Patienten. Die Methode hat er aus der Selbsttherapie heraus entwickelt - er sah sich, vor vielen Jahren, immer wieder "Paris, Texas" an, weil da irgendetwas war, das ihn tief berührte. In Amerika gibt es Filmtherapie schon länger, hierzulande ist sie selten, aber, so Teischel, es gebe immer mehr Nachfragen von Kollegen nach Seminaren. Teischel hat mehrere Bücher über das Thema geschrieben, das neueste heißt "Trauerspiel - Einführung in die existenzielle Filmtherapie".

Eigentlich ist es ja gar nicht so abwegig, Filme zu nutzen für psychotherapeutische Behandlungen: Das Kino ist ein zutiefst emotionales Medium, es spricht gleich mehrere Sinne an, und die besten Filme ergeben keinen Sinn, wenn man nichts fühlt. Die Patienten, sagt Teischel, "reagieren mit ihrer Lebensgeschichte auf den Film, der ja auch eine Lebensgeschichte erzählt".

Gerade in einer Gruppentherapie ist es gut vorstellbar, warum das funktioniert, obwohl die Leute dort gar nicht dieselben Probleme wie die Menschen auf der Leinwand haben. Es ist viel leichter, über Filmfiguren zu sprechen, statt den anderen von den eigenen Ängsten und Sorgen zu erzählen; nach einer Weile merken die Teilnehmer dann, dass sie längst begonnen haben, über sich selbst zu sprechen. Die Wahrnehmung ist generell subjektiv, und auf welche Figuren oder Nebenhandlungen der einzelne viel Wert legt, welche Szene ihn oder sie besonders berührt - das hat alles mit der eigenen Erfahrung, den eigenen Sorgen, der momentanen Verfassung zu tun.

"Wenn jemand sagt, er reagiert auf einen bestimmten Schauspieler allergisch, frage ich sofort, warum - es gibt dafür immer einen Grund, beispielsweise, dass er eine bestimmte Art von Typen spielt." Kino, glaubt Teischel, werde deswegen zu einem Spiegel der Gesellschaft und eigne sich für Gruppen, weil es selbst Gruppenarbeit ist - in einen Film fließe ja selten nur eine Vorstellung vom fertigen Kunstwerk ein, Regisseur und Autor, Cutter und Kameramann, jeder Schauspieler trägt etwas bei.

In seinem Buch beschreibt Teischel besonders ausführlich, wie er "Drei Farben: Blau" (1993) von Krzysztof Kieślowski einsetzt. Da spielt Juliette Binoche eine Frau, die einen Verkehrsunfall überlebt hat, bei dem ihr Mann und ihr Kind ums Leben gekommen sind. Sie ist so verzweifelt, dass sie versucht, sich umzubringen, sie hat Angst davor, weiterzuexistieren; aber sie schafft es dann doch, neuen Sinn zu finden, in der Musik. "Wenn uns Ängste und Depressionen derart zu lähmen vermögen, dass sie den Sinn des Lebens verdunkeln oder gar in Abrede zu stellen drohen, können wir zuletzt nur aus einem Impuls des ,Trotzdem' unsere innere Freiheit mobilisieren und aus ihr den Mut zur Veränderung schöpfen", schreibt Teischel über "Drei Farben: Blau".

Ob das zu messbaren Ergebnissen führt? - "Ja, klar"

Es kommen in der Gruppentherapie offensichtlich erstaunliche Dinge zutage - so hat Teischel beobachtet, dass Männer mehrheitlich bei Julie eine positive Entwicklung erkennen, während die Frauen davon ausgehen, dass sie ihren Suizid vorbereitet. Ob das auch zu messbaren Ergebnissen führt? "Ja, klar - mich hat nach ,Drei Farben: Blau' schon jemand um einen Einzeltermin gebeten. Was in anderen Therapien gar nicht herausgekommen ist, wird durch einen Film plötzlich freigelegt."

Als er einmal in der Klinik Thomas Vinterbergs "Das Fest" (1998) gezeigt hat, fiel einem Patienten ein verdrängter Missbrauch wieder ein. Oder Zach Braffs "Garden State" - da hat der Protagonist Depressionen, lernt, dass es in Ordnung ist, nicht immer glücklich zu sein. Auch "The Descendants" (2012) gehört zu Teischels Repertoire, Alexander Paynes Film mit George Clooney als Familienvater, der sich mit seinen Töchtern zusammenraufen muss, weil seine Frau im Koma liegt - und dann bekommt er auch noch heraus, dass sie ihn betrogen hat. Vielseitig einsetzbar!

Besonders gut: Liebesfilme

Ist es normal, wenn jemand sich bei schlechter Stimmung zwanghaft Hitchcocks "Das Fenster zum Hof" anschaut? Teischel findet das jedenfalls verständlich. "Das ist wie bei Kindern, die immer wieder dieselbe Geschichte hören wollen. Außerdem finden da Macht und Ohnmacht zusammen." Das Böse bricht in einen idyllischen Hinterhof ein an einem lauen Sommerabend - aber am Ende ist es ja auch wieder weg, und die Idylle bleibt.

In Österreich, dem Mutterland der Psychoanalyse, muss eine Ausbildung zum Psychotherapeuten nicht mit einem Medizin- oder Psychologiestudium verbunden sein, sie kann auch auf ein Soziologie-, Pädagogik oder Philosophiestudium aufbauen - und ein solcher Therapeut ist Teischel, ein Philosoph, der inzwischen allerdings noch zusätzlich Psychoanalytiker wird. In Österreich gibt es mehrere Filmtherapeuten - Teischel hebt einen Kollegen hervor, der in Wien in einer Suchtklinik arbeitet.

In Teischels Buch geht es vorwiegend um Filme, die im weitesten Sinne von Sterbebegleitung handeln. "Ich habe auch schon Komödien gezeigt, aber die meisten Filme, die uns bewegen, haben mit Leidzuständen zu tun." Angst, sagt er, spielt dabei sowieso fast immer eine Rolle. Der Kollege in Wien setze auf Liebesfilme, weil diese Suchtkranken neue Perspektiven öffnen für die künftige Abstinenz. Fast jeder Film kann einem helfen, findet Teischel, wenn er denn wahrhaftig ist, so wie auch Märchen wahrhaftig sein können. Geschichten, in denen Platz für Schwäche und Scheitern ist - weil am schlimmsten sei, wenn Menschen sich nicht eingestehen könnten, dass sie nicht immer stark sein können.

Aber es gibt für Teischel auch falsches Kino. "Der Film muss einen ernst nehmen", sagt er. Und Eskapismus? Ist der geistigen Gesundheit nur in kleinen Dosen förderlich. Er ist, sagt Teischel, "als Haltung gefährlich". Kurz der Wirklichkeit auszuweichen, kann guttun, sich in eine Parallelwelt zu flüchten, aber sei langfristig keine Lösung. Dass auch das Kino irgendwie ein Rauschmittel sei, weist Teischel zurück. "Kunst ist keine Droge, weil man sich nicht in ihr verliert. Eine bewusstseinserweiternde Droge vielleicht, in dem Sinne, dass das nicht nur vorgegaukelt wird, sondern tatsächlich mit mir zu tun hat. Im Kino bin ich ganz bei mir."

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