Süddeutsche Zeitung

Sinn und Unsinn:Der Klang der Krise

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Wie baut man ein Orchester im Irak auf und bringt Araber und Kurden dazu, gemeinsam Beethoven zu spielen?

Von Alexander Menden

Kneipen, Wettbüros, Fish-and-Chips-Shops, das sind die Sehenswürdigkeiten in Govan, dem vielleicht heruntergekommensten Stadtteil Glasgows. Nur der sogenannte Fairfield Heritage Site erinnert noch daran, dass hier am Clyde hundert Jahre lang Kreuzfahrt- und Kriegsschiffe gebaut wurden. Im Fairfield-Gebäude waren früher die Verwaltungsbüros der Schiffsbauer untergebracht, in den Wohnblocks gleich nebenan wohnten die Angestellten. Hier ist Paul MacAlindin vor ein paar Monaten eingezogen. "Es ist preiswert, und ich mag die Energie von Govan", sagt MacAlindin, während er in der Küche Tee aufgießt. Im Wohnzimmer mit der hohen Stuckdecke und Wänden in grellem Orange lässt er sich auf dem Sofabett nieder, strumpfsockig und im T-Shirt. "Glasgow ist die schottische Musikstadt", sagt er. "Hier habe ich Gelegenheit, zur Gesellschaftsregeneration beizutragen."

Der gebürtige Schotte lebt zum ersten Mal seit Langem wieder in seiner Heimat. Vorher hatte MacAlindin 16 Jahre in Köln gewohnt, weil er, wie er sagt, "da sein wollte, wo die klassische Musik begann, und lernen, wie sie dort musikalisch und wirtschaftlich funktioniert". Den Ausstieg der Briten aus der EU beobachtet er mit Grausen, aber überrascht ist er davon nicht: "Eine europäische Identität fliegt dir nicht einfach so zu - du musst sie kultivieren. Man muss mobil sein, zwei, drei Sprachen sprechen, von Land zu Land ziehen. Die meisten Briten sind ungefähr so europäisch wie ein Japaner, der London besucht - zwei Wochen in Torremolinos reichen eben nicht."

Obwohl er sich in Deutschland mit so unterschiedlichen Jobs wie Englischlehrer und Business-Coach über Wasser hielt, war es sein eigentlicher Beruf als freiberuflicher Dirigent, der zum größten Abenteuer seiner bisherigen Karriere führte: die Gründung eines Jugendorchesters im Irak - ein Projekt, von dem er rückblickend sagt, es habe ihn "fast umgebracht". Jetzt hat er ein Buch über diese Zeit geschrieben, und während er darüber spricht, hat man den Eindruck, als komme auch ihm selbst das Ganze aus der zeitlichen und räumlichen Distanz ziemlich surreal vor.

"Ich wusste nichts über den Irak, außer, dass dort Krieg herrschte."

Im Herbst 2008 entdeckte MacAlindin bei einem Besuch in Edinburgh eine Anzeige im Glasgow Herald: "Britischer Maestro für Orchestergründung im Irak gesucht." Aufgegeben hatte sie Zuhal Sultan, eine 17-jährige Pianistin aus Bagdad, die, wie sich herausstellte, mit unglaublicher Energie an diesem Projekt arbeitete, das auf den ersten Blick so abseitig erschien. "Ich dachte: Das kann ich, dafür habe ich noch die Energie", sagt MacAlindin, der damals gerade 40 geworden war. "Und ich begann gleich darüber nachzudenken: Wer würde drin sein in diesem Orchester? Wer würde lehren? Was für Musik würde es machen? Ein unbeackertes Gelände voller potenziell talentierter junger Menschen." Er bewarb sich. "Dabei wusste ich nichts über den Irak, außer, dass dort Krieg herrschte."

Der deutsche Titel seines Buchs ist etwas elegisch geraten - "Bis der letzte Ton verklingt"; das Original heißt einfach "Upbeat", was durchaus passender ist, denn es bedeutet sowohl "Auftakt" als auch "optimistisch". Ohne Optimismus hätten MacAlindin, Zuhal Sultan und ihre Mitstreiter bis zum ersten von fünf jährlichen Sommerkursen sicher nie all die Hürden überwunden; die Finanzierung etwa und die Organisation: Die Kandidaten, Araber und Kurden, bewarben sich übers Internet, wo die meisten sich über Youtube auch das Spielen beigebracht hatten. Die Umstände waren oft surreal: Ein Hornist, Ali, lebte in Sadr City, wo die Nachbarn gelinde gesagt skeptisch reagiert hätten, wenn sie ihn auf einem westlichen Instrument hätten üben hören. So hatte er immer sein Horn stopfen und sein Zimmer mit Handtüchern schalldicht versiegeln müssen, um zu spielen.

Auch waren die Instrumente oft mies. "Das Klima ist tödlich, Oboen bekommen Risse, Geigen gehen aus dem Leim. Die Musiker hatten Techniken entwickelt, um die Schwächen der Instrumente auszugleichen", erklärt MacAlindin. Und "viele wussten schlicht nicht, wie ein gutes Instrument klingt. Wir mussten ihnen zeigen, wie es sich anhören kann, wenn man nicht mit solchem Schrott kämpfen muss."

Im Sommer 2009 traf man sich zum ersten Mal, die irakischen Musiker, die eigens engagierten Lehrer aus dem Westen und MacAlindin. Ort des Treffens war Sulaimaniya im kurdischen Norden des Iraks. Die Einreise dorthin war einfacher als nach Bagdad, wo das irakische Jugendorchester nie spielen würde. Sulaimaniya war sicherer, aber es blieben Spannungen: "Araber und Kurden waren durch die historischen Umstände auseinandergedrückt worden", erklärt MacAlindin. "Natürlich war die Musik eine wichtige gemeinsame Sprache, aber es gehörte auch viel Teamwork dazu, um als Gruppe zusammenzuwachsen. Was ich von Anfang an klarstellte, war: Wir wissen Bescheid über die politischen Probleme und den ganzen Mist - aber das nehmen wir nicht mit in den Proberaum. Hier geht es nur um Musik, nichts anderes."

Mehrere Jahre hintereinander flogen MacAlindin und eine Gruppe Instrumentallehrer im Sommer ins Kurdengebiet, um an Technik und Repertoire zu arbeiten: Beethoven, Schubert, Haydn, aber auch Stücke irakischer Komponisten - und eine Komposition von MacAlindins Freund und früherem Partner Peter Maxwell Davies, der die Schirmherrschaft übernommen hatte. Ständig gab es Streit zwischen den ethnischen Gruppen zu schlichten, manche Lehrer litten nach dem Verzehr von Mahlzeiten, vor denen man sie gewarnt hatte, unter fürchterlichem Durchfall. Doch das alles lenkte nie lange von der eigentlichen, musikalischen Arbeit ab.

Auch nach mehreren Wochen intensiven Coachings klang das irakische Jugendorchester nie, wie man es von einem westlichen Orchester erwartet hätte. Dafür hatte es andere Stärken. "Der Klang, den sie erzeugten, war im Bestfall so unglaublich individuell und aufregend, dass es technische Mängel wettmachte", erinnert sich der Dirigent. Die anderen Jugendorchester nennt er "Rolls Royce"-Orchester. Sie seien sehr gut - aber weil sie so perfekt sind, eben mitunter auch langweilig. "Diese Kinder haben nie Mangel oder Gefahr erlebt - sie sind nicht so kämpferisch, besessen, hungrig wie meine Iraker es sein mussten, um überhaupt spielen zu können", erzählt MacAlindin. "Es waren Kriegskinder, die einen Konflikt im Konflikt auszufechten hatten: klassische Musik in einem nahöstlichen Land in einer Kriegssituation spielen zu können. Dieser Konflikt war unsere Energiequelle. Meine Aufgabe war es, den Konflikt in positive Energie zu wandeln."

Tatsächlich waren die Spannungen, die es zu überwinden galt, nicht in erster Linie musikalischer Natur. Schon die Kommunikation war schwierig: "Ich sagte etwas, dann musste der Dolmetscher zu meiner Rechten es ins Kurdische übersetzen, und dann der zu meiner Linken ins Arabische. Hinzu kam, dass der eine Medizinstudent war, der andere Klimaanlagentechniker, ich konnte also nicht sehr viel Fachsprache benutzen. Das meiste war Körpersprache - das ist zum Glück das, was ich als Dirigent ohnehin am besten beherrsche."

In Köln war in der Zwischenzeit ein Förderverein gegründet worden, der entscheidend dazu beitrug, dass das Irakische Jugendorchester 2011 beim Beethovenfest in Bonn auftreten konnte. Es folgten Auftritte in Schottland und Frankreich, mit immer anspruchsvolleren Programmen. Doch für eine geplante Tour in die USA wurden 2014 die Visa verweigert. Kurz danach machte der Aufstieg der Terrormiliz Islamischer Staat eine Fortsetzung unter den bisherigen Bedingungen unmöglich. Einige Mitglieder des Orchesters stehen heute noch übers Internet miteinander in Verbindung, ein paar sind im Nationalen Symphonieorchester in Bagdad untergekommen. "Wir haben denen einige hervorragende Hornisten geliefert", sagt Paul MacAlindin. Andere wanderten aus, haben Asyl in Kanada, Finnland oder Deutschland beantragt.

Die Tour durch die USA scheiterte - man verweigerte den Musikern die Einreise

Das Jugendorchester liegt derzeit auf Eis, und MacAlindin hat das Kapitel offenbar für sich abgeschlossen. Er habe bei diesem Projekt die eigenen Grenzen ausgelotet und sei dabei oft genau an diese Grenzen gestoßen, sagt er. Nun "verspüre ich nicht mehr den Drang, sie zu testen. Ich habe mich für einen guten Zweck eingesetzt und etwas erreicht."

Wie sieht er die Zukunft der klassischen Musik im Irak? "Sie meinen: Wird es im Irak in absehbarer Zukunft ein wunderbares Förderprogramm für die musizierende Jugend geben?", fragt er zurück, und antwortet selbst: "Natürlich nicht. Das Bildungs- und das Kultusministerium werden gar nichts tun, weil sie alle korrupt und kriminell sind. Das kann nur durch List gelingen." Aber es werde dort immer ein paar Hundert junge Menschen geben, die einen Weg finden, klassische Musik zu machen: "Ich kann nur hoffen", sagt Paul MacAlindin, dass unser Orchester den Grundstein dafür gelegt hat."

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SZ vom 22.04.2017
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