Süddeutsche Zeitung

Sinn und Unsinn:Das Traumschiff

Wieso sich ein Buchhändler, der nicht segeln kann und auch kein Bastler ist, zwölf Jahre Zeit nimmt, um allein mithlfe von Plänen aus dem Internet ein Boot zu bauen.

Von Gerhard Matzig

Nummer 18 ist auf der anderen Seite, gleich da hinten. Sie wollen zu dem mit dem Schiff?" Der Mann reibt sich die weißen Bartstoppeln am Kinn, das wie ein abgeerntetes Feld aussieht. "Stimmt, und wie finden Sie die Sache mit dem Schiff?" Jetzt schiebt sich der Mann die Mütze aus dem Gesicht und schaut einen aus wehrhaften Schießschartenaugen an. Eine Szene, wie in einem alten Western, an einem Ort, an dem die Fremden fremd und selten sind. Es ist kalt an diesem Dezembertag in Opperkofen. Die fahle Sonne steht tief, die Schatten frieren sich blau.

Die Mütze wird über die Ohren gezogen, der Mann geht zurück in sein Haus. Dann dreht er sich um: "Schiff, na ja, leben und leben lassen. Aber sehen Sie hier irgendwo ein Meer?" Nein, es gibt kein Meer im Gäuboden zwischen Bayerischem Wald und niederbayerischem Hügelland. Nur Felder und viel Horizont. Aber womöglich ist das hier ein Meer aus Feldern - und die sanft sich hebende und senkende Hügellandschaft ist der Seegang, die Dünung, das Auf und Ab der Wellen.

Hier in Niederbayern gibt es kein Meer, höchstens ein Meer aus Feldern

Julius Lebhaft ist 53 Jahre alt und von Berufs wegen Buchhändler sowie, man darf das respektvoll sagen, Fantast aus Berufung. Er sieht das Meer, wenn er zum Fenster rausschaut. Lebhaft wird seinem Namen gerecht, er hat eine Fantasie, die nur schwer zur Ruhe kommt. Er ist sozusagen der Fitzcarraldo von Niederbayern. Das ist eine Figur aus dem gleichnamigen Film von Werner Herzog. Darin geht es um einen Mann, der im Amazonas-Dschungel eine Oper errichten will, weshalb er ein Schiff über einen Berg zieht. Eine bizarre Szene. Lebhaft hat auch einen Traum. Aber er baut keine Oper, sondern ein Schiff. Ein Schiff in Niederbayern, wo es kein Meer gibt; dass einer baut, der weder wirklich segeln kann noch wirklich weiß, wie man ein Schiff baut - ist es Unsinn, ist es Sinn? Ist es ein Hobby, unwirklich oder eben ein wahres Traumschiff?

Fantasie ist dem satten und dennoch eigentümlich kargen Landstrich zwischen Donau und Isar nicht eingeschrieben. Hier herrscht die Ökonomie des Praktischen und Vernünftigen. Unsinn hat hier keinen Platz. Auf einem Plakat am Tor einer Scheune steht "Brötchengeber". Das ist die Werbung des Bayerischen Bauernverbandes. Die Scholle ist wichtig. Jene Fantasie eher nicht, wie sie dem Buchhändler gegeben ist, dessen Familie aus Ex-Jugoslawien stammt, aus Serbien und Kroatien, auch aus Ungarn. Spätaussiedler. Vielsprachig, vielfarbig, vieldeutig. Mit Sinn für das Besondere im Normalen. Mit einem Wunsch nach weitem Horizont.

Opperkofen ist offiziell ein Ortsteil der Gemeinde Feldkirchen im Landkreis Straubing-Bogen. Inoffiziell ist es ein Straßendorf, dessen Adressen mit "da hinten" und "da vorn" präzise beschrieben sind. Die Nummer 18 ist ein Einfamilienhaus wie andere auch. Vor zwölf Jahren ist die Familie eingezogen, in das Haus mit Garten. "Die Kinder", sagt die 52-jährige Michaela Lebhaft, sie ist Ingenieurin und stammt, melodisch ist das schön zu hören, aus Wien, "sie sollten es grün haben." Das Haus: nicht alt, nicht neu. Grau. Doch wird es von einem großen Garten umfasst, vom großen Grün: mit Blick aufs Meer, das aus Feldern und noch mehr Grün besteht.

Im Garten steht neben dem windschiefen Baumhaus der Schuppen. Ein Refugium. Der amerikanische Schriftsteller Raymond Chandler ließ einmal eine seiner Figuren sagen: Nach zwanzig Jahren Ehe bleibt einem Mann nur noch ein Platz an der Werkbank in der Garage. Oder im Schuppen. Frau Lebhaft würde das nicht so sagen. Und die drei Kinder, Luka (12 Jahre), Julian (16) und die schon aus- und nach Regensburg gezogene Tania (23), sind auch kein richtiger Beleg für die Chandler-These. Der Buchhändler, der viel mit dem Auto unterwegs ist, um Buchhandlungen von Passau bis Würzburg zu betreuen, hat auch nach vielen Ehejahren durchaus ein Leben abseits der Werkbank. Aber dennoch: Gerade in Opperkofen ist die Werkbank ein reiner Sehnsuchtsort.

Die Kreisstraße SR 23 führt durchs Dorf. Dafür braucht man im Auto eine halbe Minute. Wer den Bus der Linie 24 nach Straubing um 14 Uhr 27 verpasst, muss auf den nächsten Bus knapp zwei Stunden warten. Die Orte der Umgebung heißen Sünching, Salching oder Leiblfing. Insofern hat Opperkofen außer Wirtshaus (geschlossen) und Kirchlein (geschlossen) noch zwei Besonderheiten: kein "ing" im Namen und einen das Offene liebenden Fitzcarraldo. Zwölf Meter lang soll der Zweimaster werden, "hochseetauglich". Nach Bausatz und Internetanleitung. 35 000 Euro und 5000 Arbeitsstunden wird das am Ende kosten.

An jedem Tag eine Stunde. Bis 2027 will Julius Lebhaft fertig sein. Pro Jahr ein Meter Schiff. Es soll Friendship heißen, vielleicht. Es geht um eine Idee, die einem etwas wahnsinnig vorkommen könnte, wenn sie nicht auch so wunderbar wäre. Lebhaft ist weder Segler noch Handwerker, rings um ihn: nichts als Felder, warum um Himmels willen baut der Mann ein Schiff? "Um damit bis zum Amazonas zu fahren." Lebhaft zieht an seiner E-Zigarette, die kleine Wölkchen von sich gibt. "Aber eigentlich kommt es darauf auch nicht an." - "Worauf dann?" - "Aufs Tun und auf das Denken vom Tun." Wie jetzt?

"Kommen Sie", sagt Lebhaft, "ich zeig' Ihnen mal was." Er führt hinauf zum Dachboden. Ein Boxsack, Hanteln, ein moosgrüner Sessel, ein altes Bett. Auf einem Tischkicker: filigran gearbeitete Pfeilbögen aus Holz. Die Bögen sind nicht das, was man als Vater normalerweise seinen Kindern mit dem Taschenmesser zurechtsägt. Sie sind perfekt. "Wochen hab ich dafür gebraucht." Und dabei hat Julius Lebhaft etwas über sich herausgefunden: Der Nichthandwerker hat das Glück des Handwerks gefühlt. Nicht den Reiz allerdings der Do-it-yourself-Mode, wie sie jetzt so angesagt ist in den Zeiten der digitalisierten Entfremdung - sondern die geistige Übung. Julius Lebhaft handwerkelt nicht, er meditiert. Das Tun ist ein Mittel zum Denken, wobei das Denken nur auf das Tun zielt. Letztlich geht es um Glück.

Nun wird das große Schiff gebaut. Das heißt, noch nicht ganz. Denn erst will er sich prüfen, will sehen, ob er es schafft. Deshalb wird jetzt erst mal das Beiboot gebaut. Bis März. Der Nachbar, Willi, ein Schreiner, hat dafür das Holz besorgt. Das Gerippe des Bootes, ein Dingi, vier Meter lang, ist schon fertig. An einer Wand im Schuppen hängen die Pläne. Auf der, jawohl, Werkbank: etwas Werkzeug, nicht viel, eine Atemschutzmaske - und eine Apparatur, die Lebhaft erfunden hat, zum bequemen Anrühren von Epoxidharz. "Ich bin nämlich nicht nur kein Handwerker, ich bin auch sehr faul."

Jeder Handgriff hier dient nicht dem Material, sondern der Idee davon. "Ich bin oft unterwegs, immer erreichbar . . ., hier komme ich zu mir selbst. Komme runter. Ganz ohne Wellness und Tai-Chi-Kurs." Ob Sohn Luka auch daran glaubt, dass die Familie in zwölf Jahren im Amazonas-Delta herumschippert auf der Friendship? "Ganz sicher", sagt der Junge grinsend, "wenn auch nur kurz." Er vermutet, dass das Schiff sofort sinken wird. Aber vielleicht ahnt er, dass es darauf gar nicht ankommt.

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Quelle:
SZ vom 19.12.2015
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