Süddeutsche Zeitung

Sinn und Unsinn:Baumgeflüster

Der Wald war immer ein Sehnsuchtsort der Deutschen, in Literatur, Lied und Kunst. Dann wurde er krank. Nun, da er auf einem guten Weg ist, wird er als Gemütsheiler neu entdeckt.

Von Titus Arnu

Es ist fast wie beim Dornröschenschloss, nur ist die wuchernde Verwaldung hier gewollt: Im Treppenhaus wächst ein 14 Meter hoher "hängender Waldgarten". Singvögel zwitschern aus Deckenlautsprechern. Warme Schwaden, die nach Latschenkiefer duften, strömen aus der Wald-Sauna in den Ruheraum "Wald-Stadl". Knisternd brennt ein Kaminfeuer, die Scheite stammen aus dem hoteleigenen Wald. Beim Schwimmen im 25-Meter-Pool schaut einem ein Hirsch zu, er glotzt etwas verwundert vom waldigen Wildgehege ins Wellness-Menschengehege.

Willkommen im "ersten Wald-Spa Europas": In Leogang hat die Fünf-Sterne-Version eines Waldes eröffnet, wohltemperiert, komplett überdacht und garantiert gefahrlos erlebbar. Weder Ameisen noch Tannennadeln stören beim Barfußgehen. Morgens steht eine Meditation auf der Waldlichtung oberhalb des Hotels auf dem Programm, danach kann man in der Teelounge "Waldgeflüster" in einem Bestseller über fühlende Fichten blättern oder die Partnerdusche "Waldgrotte" aufsuchen. Wer will, lässt sich auf einer hölzernen Plattform mitten im Wald massieren und von Eichhörnchen beobachten.

Das Forsthofgut war bis 2002 eine Landwirtschaft, und die Familie Schmuck, der das gleichnamige Wellnesshotel gehört, betreute das ehemals königliche Forstgebiet. 45 Hektar Wald gehören zum Hotel. "Holz war früher lebensnotwendig, man brauchte es zum Bauen, zum Heizen und zum Kochen", sagt Christina Schmuck, Gastgeberin im Forsthofgut. Im Wald-Spa ist Holz ein zentrales Designelement und ein Wellnessfaktor. Für das Gefühl der Naturverbundenheit buchen Städter gerne einen luxuriösen Kurzaufenthalt im Naturhotel, Behandlungspaket mit Zirbenöl und geführter Waldrundgang inklusive.

Man könnte fast zu dem Schluss kommen, dass Bäume die besseren Menschen sind

Ein Aufenthalt im Wald, sei es nun in der Indoor-Luxus-Simulation oder draußen unter Originalbäumen, kann einen nachdenklich machen. Früher suchte man hauptsächlich Pilze und Brennholz im Wald, heute eher Seelenfrieden und den Sinn des Lebens. Der Wald hat sich offenbar zu einer Art Wellnessoase mit philosophischem Anspruch entwickelt. Holz ist nicht mehr nur Heizmaterial, es ist ein Heilsversprechen. Bücher wie "Sehnsucht Wald" von Andreas Kieling und Kilian Schönberger zelebrieren den Mythos Wald, die Titel "Das geheime Leben der Bäume" von Peter Wohlleben und "Die geheime Sprache der Bäume" von Erwin Thoma, beide gelernte Förster, standen monatelang auf den Bestsellerlisten. In diesen populären Baum-Bibeln kann man von Eichen und Buchen lesen, die ihren Nachwuchs sowie pflegebedürftige Nachbarn liebevoll umsorgen, die Empfindungen und ein Gedächtnis haben. Man könnte fast zu dem Schluss kommen, dass Bäume die besseren Menschen sind.

Der Wald ist eben eine große, dunkle Projektionsfläche: Wenn ein Mensch im Gewirr der Büsche und Bäume verschwindet, fühlt er sich mangels Weitsicht automatisch klein und verloren. Überall knackt und raschelt es, also überträgt er die Fantasien und Ängste aus seinem Inneren auf die Umgebung. Der Mensch ist in einem mitteleuropäischen Wald wahrscheinlich das gefährlichste Tier weit und breit, denn Mäuse, Eichhörnchen und Rehe können ihm nicht viel anhaben. Trotzdem ist der Wald in der Vorstellung des Menschen seit jeher ein ambivalenter Raum: einerseits ein verlockender Dschungel, andererseits eine Art Freiluft-Geisterbahn.

Im Märchen ist der Wald ein magischer Ort, an dem es von Hexen, Zwergen und anderen Zauberwesen wimmelt. Urvölker haben gute und böse Geister im Wald angesiedelt. In der Fantasy-Literatur gehören Waldwesen zum festen Personal, von den Elben, Trollen und Orks in Tolkiens "Herr der Ringe" bis zur "Peitschenden Weide" im Universum von Harry Potter. J.R.R. Tolkien soll bei Spaziergängen Bäume umarmt und sein Ohr an den Stamm gepresst haben; der Schriftsteller behauptete, das sei die einzige Art, Bäume zu verstehen. Der moderne Baumversteher Erwin Thoma hat eine ähnlich innige Beziehung wie Tolkien zu seinen Lieblingslebewesen. Auf dem Cover seines Buches "Die geheime Sprache der Bäume" umarmt er lächelnd einen dicken Stamm. Thoma sitzt in seinem Holzhaus bei Goldegg im Salzburger Land und streicht mit den Fingern über eine Massivholzplatte, der Blick aus dem Fenster geht auf eine Schafweide und den Wald. "Der Werkstoff Holz ist nicht aufzuhalten", sagt er, "weil die Gesellschaft darauf angewiesen ist." Thomas Unternehmen "Holz 100" baut Häuser komplett aus Massivholz, ohne giftigen Leim, Holzschutzmittel und Dämmstoffe wie Styropor. Der Wald ist aus seiner Sicht ein ökonomisch und ökologisch optimales Modell: "perfekte Regeneration, ohne Atomkraftwerk und Computersteuerung". Er arbeitet schon lange daran, nach dem Vorbild des Waldes eine "enkelkindertaugliche Kreislaufwirtschaft" zu etablieren.

Thoma war mal der jüngste Förster Österreichs, sein erstes Revier war die Eng im Karwendel, ein abgelegenes Tal, das mit dem Auto nur über Deutschland erreichbar ist. Von Bergbauern, Holzknechten und seinem Großvater, einem Zimmermann, sammelte er viel altes Holzwissen - wann man welches Holz schlägt, wie man es lagert, was die Mondphasen damit zu tun haben. Sein neues Buch "Holzwunder - die Rückkehr der Bäume in unser Leben" enthält einen Holz-Mond-Kalender für die Jahre 2016 - 2026. Esoterik? Thoma nennt eine Untersuchung der ETH Zürich, die auf einen Zusammenhang zwischen Mondphasen und Holzqualität verweist, und er zeigt auf einen Ski, der in seinem Büro steht. Es ist der Rennski von Lindsay Vonn, einer der erfolgreichsten Skisportlerinnen der Welt, ausgestattet mit einem Kern aus "Mondholz".

"Der Wald ist auch ein Psychotherapeut, ein wichtiger Teil unserer seelischen Hygiene."

Wenn einer so auf Massivholz setzt wie Erwin Thoma, zählt er dann nicht auch zu den Naturzerstörern? In den 1980er-Jahren dachte man noch, das Waldsterben vernichte in absehbarer Zeit alle Bäume in Europa. Drei Jahrzehnte später ist das Gegenteil der Fall: Der Wald wuchert, besonders im Alpenraum und in den Mittelgebirgen breitet er sich immer weiter aus. Weil sich kleinräumige Landwirtschaft in den Bergen nicht mehr lohnt, wachsen Weideflächen nach und nach zu. "Der mitteleuropäische Wald wächst uns über den Kopf", sagt Thoma. Derzeit wächst mehr Holz nach, als beim Bauen verbraucht wird. Zwei Fünftel Europas sind von Wald bedeckt. "Um alle Häuser in Deutschland komplett aus Holz zu bauen, würde ein Fünftel Zuwachs pro Jahr genügen", rechnet Thoma vor.

Die Entwicklung vom Märchenwald über die industrielle Monokultur bis zum nachhaltigen Wellnesswald ist so gesehen eigentlich sehr erfreulich. "Am Ende all unserer Entwicklungen steht die Erfahrung, dass es besser ist, mit der Natur zu arbeiten als gegen sie", sagt Erwin Thoma. Die Rückkehr der Bäume in unser Leben findet gleichzeitig auf einer Gefühlsebene statt. Ratgeber empfehlen als Achtsamkeitsübung, mal einen Spaziergang durch den Wald zu unternehmen. "Der Wald gibt Kraft", sagt Christina Schmuck, die täglich mit ihrem braunen Labrador im Wald spazieren geht. "Wir brauchen die Erdung dort draußen", weiß Erwin Thoma.

Der Münchner Psychotherapeut Wolfgang Schmidbauer hat einen Wald in Franken geerbt, den er nach dem Plenter-Prinzip bewirtschaftet - einzelne Bäume werden gefällt, ansonsten regeneriert sich der naturnahe Mischwald von selbst. Umgekehrt sorgt der Wald für seelische Regeneration beim Menschen. "Der Wald ist, um es etwas überpointiert zu sagen, auch ein Psychotherapeut, ein wichtiger Teil unserer seelischen Hygiene ", sagt Schmidbauer. Untersuchungen über den Zusammenhang von Naturerlebnis und seelischer Störung haben laut Schmidbauer gezeigt, dass leichte Formen von Angst und Depression geheilt werden können, "wenn Menschen die Möglichkeit haben, sich in eine Art Kokon aus Grün zurückzuziehen und sich gewissermaßen einzuspinnen, bis sich ihre Kräfte regeneriert haben".

Das ist auch das Prinzip des Wald-Spas in Leogang. Die Krankenkasse übernimmt den Aufenthalt dort trotzdem nicht.

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SZ vom 22.10.2016
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