Silvester:So böllert Deutschland

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Die vielen Nachteile der Knallerei sind bekannt - trotzdem werden die Deutschen zu Silvester wieder Millionen Euro in die Luft feuern. Was wird verschossen, wie dick ist die Luft und wie groß ist nach Mitternacht der Ansturm auf die Krankenhäuser?

Von Thomas Hummel (Text) und Moritz Zajonz (Grafiken)

"Was fange ich Silvester an?" fragte sich der Berliner Schriftsteller Kurt Tucholsky kurz vor der Jahreswende 1918/19 in einem Gedicht. Solle er etwa zum Generaldirektor gehen, wo sich aber das junge Volk bald verdrückt? "Der Sekt ist warm. Der Kaffee kalt - Prost Neujahr!"

99 Jahre später: Zum Generaldirektor geht fast niemand mehr, der Sekt ist am 31. Dezember um Mitternacht eisgekühlt. Und die Deutschen geben sich einem seltsamen Brauch hin: Sie schießen Raketen in die Luft, lassen Kanonenböller explodieren, werfen sich gegenseitig Ladykracher vor die Füße. Wer hierzulande an Silvester denkt, dem kommt zuallererst die Knallerei in den Sinn.

In dieser Nacht nehmen sich die Bürger der sonst so strebsamen Nation das Recht heraus, es mal richtig krachen zu lassen. Ursprünglich sollten damit böse Geister vertrieben werden, heute ist es der alljährliche Knalleffekt der Silvesterpartys. 137 Millionen Euro investieren die Deutschen in den Spaß. Seit Jahren steigen die Umsätze, leicht aber stetig. Nur 2004 gab es einen deutlichen Rückgang, die Bundesregierung hatte wegen des verheerenden Tsunamis in Asien dazu aufgerufen, das Geld lieber zu spenden.

Doch seitdem geht es wieder aufwärts für die pyrotechnische Industrie. In der Öffentlichkeit fallen ihre Erzeugnisse sonst nur auf, wenn Fußballfans im Stadion ein paar Rauchbomben zünden und dann von der Polizei gesucht werden. Am Jahresende darf jeder ballern, was das Zeug hält. Der Renner sind derzeit die Batterien beziehungsweise Verbundfeuerwerke, die etwa die Hälfte des Umsatzes einspielen. Diese Boxen haben verschiedene Böller und Raketen inklusive, der Käufer muss nur einmal zünden, dann werden alle nacheinander abgeschossen. "Seit Jahren ist festzustellen, dass diese Artikel im Trend sind", sagt Verbands-Geschäftsführer Klaus Gotzen. Dabei kommen drei Viertel der Baller-Waren inzwischen aus China.

Kurt Tucholsky erwägte, Silvester zu Hause zu bleiben. "Erst gibt es Hecht mit süßer Soße. Dann gibt's Gelee. Dann gibt es Krach." Nicht mit Böllern, sondern in Form von Streit. Der Familienkrach zu Neujahr hat eine lange Tradition, generell ist es bis heute so: Kommt der Alkohol ins Spiel und wird am 31. Dezember um 24 Uhr Bilanz gezogen, dann verdunkelt sich bisweilen die Stimmung. Bei manchen so heftig, dass sie akute Hilfe benötigen. "Viele Menschen sind in der Silvesternacht emotional stark belastet, das sehen wir dann in der Nothilfe", berichtet Matthias Klein, Leiter der Notaufnahme im Münchner Klinikum Großhadern. Nach Mitternacht erhöht sich die Zahl der Menschen, die ins Krankenhaus kommen, auf das drei- bis vierfache. Die "psychosomatischen Beschwerden" spielen hier laut Doktor Klein eine wichtige Rolle. Aber selbstredend nicht die einzige.

Womit man bei Kurt Tucholskys dritter Option ist: "Mach ich ins Amüsiervergnügen? Drück ich mich in den Stadtbahnzügen?" Nie im Jahr sind in den Städten und Ortschaften an Mitternacht so viele Menschen unterwegs, die allermeisten fröhlich und in Feierlaune. Alle wünschen allen ein frohes neues Jahr, Glück und Gesundheit, stoßen mit einem Gläschen Sekt an. In der anderen Hand ein Feuerzeug, um gleich die nächste Rakete abzuschießen. Es pfeift und knallt und rattert wie verrückt. Doch der Aufenthalt im öffentlichen Böller-Raum kann fatal enden.

Für Doktor Klein und seine Kollegen sind die Böller vor allem "ein Problem". Viele Leute kommen mit einem Knalltrauma in die Nothilfe, mehrere Tausend sollen es deutschlandweit sein in dieser Nacht. Dazu werden Menschen von Raketen am Kopf getroffen, weshalb auch Augenverletzungen dabei sind. Der zweifelhafte Spaß, Böller in eine Menschenmenge zu werfen oder gar Raketen hineinzuschießen, macht aus manchen Plätzen für Stunden einen höchst gefährlichen Ort. Richtig riskant sind die sogenannten Polen-Böller. Das sind zumeist illegale Kracher mit erheblich mehr Sprengmaterial im Inneren und anderen Manipulation, durch die sie lauter und schneller explodieren. Sie wurden lange Zeit hauptsächlich an der deutsch-polnische Grenze verkauft, daher der Name.

Feuerwerks-Verbote gibt es in Deutschland trotz aller Risiken nur wenige: Rund um Kirchen, Krankenhäuser und Altenheime ist das Böllern verboten. Oder etwa um die Bayerischen Schlösser, "wegen erhöhter Brandgefahr", wie die Verwaltung im vergangenen Jahr mitteilte.

Sonst wird freudig geknallert - was zu Silvester 2016/17 mancherorts fast zu einer Massenvergiftung führte. Vor allem in Süddeutschland herrschte in den Stunden nach Mitternacht eine hartnäckige Inversionswetterlage, die Luftschichten tauschten sich kaum aus, die kalte Luft hielt sich am Boden, die Schadstoffe ebenfalls. Wer in München eine Rakete in die Luft schoss, sah bald die farbigen Funken nicht mehr, so viel Pulverdampf schwebte in der Luft. Ergebnis waren immense Feinstaubwerte. Im Zentrum wurden kurzfristig 1346 Mikrogramm pro Kubikmeter gemessen - der EU-Grenzwert liegt bei 50. Wer nachts noch mit dem Auto unterwegs war, der schlich mit 30 Kilometern pro Stunde und Fernlicht durch eine graue Suppe. Auch der Feinstaub-Mittelwert des 1. Januars lag teilweise bei mehr als 500. "Immer an Neujahr stellen wir an vielen Messstationen wegen des Feuerwerks hohe Feinstaubwerte fest", teilte ein Sprecher des Bayerischen Landesamts für Umwelt mit. Das gilt je nach Wetterlage auch für den Rest Deutschlands (Siehe Gif-Video zu Feinstaubwerten).

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Am Ende mussten Mensch und Tier auf Wind hoffen - wobei die Tiere ohnehin ganz verstört sind. Die im Freien leben sowieso, für die Haustiere in den Wohnungen rät der Deutsche Tierschutzbund: Halter sollten versuchen, ihr Tier so gut wie möglich vom Lärm abzuschotten, geschlossene Fenster und heruntergelassene Rollladen helfen dabei. Und wer am nächsten Morgen wieder hinausblickt auf seine Umgebung, der darf hoffentlich schon der Stadtreinigung danken. Tonnen von Müll sammeln sich auf den Straßen der Städte, die Berliner schicken nachts um 2 Uhr etwa 600 Mitarbeiter mit Besen und 150 Kehrmaschinen los. Die Rückstände der Böller verrotten kaum, was man in manchen Parks noch an Ostern besichtigen kann.

Bei alledem blieb Kurt Tucholsky schon vor fast 100 Jahren nur eine flehentliche Bitte: "Helft mir armem Mann! Was fang ich bloß Silvester an?"

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