Sexueller Missbrauch:Anlaufstellen für missbrauchte Männer sind rar

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Gibt es eigentlich verlässliche Zahlen, wie viele Männer Opfer sexueller Gewalt werden und ob die häufiger von Frauen oder Männern ausgeht?

Leider gibt es keine repräsentativen Studien zu dem Thema, die wirklich belastbare Zahlen liefern. Es gibt ungefähre Zahlen, wie viele Männer in Kindheit oder Jugend missbraucht wurden, wie vielen das im Erwachsenenalter passiert, ist unklar. Die Dunkelziffer ist außerdem extrem hoch.

Von den Männern, die in unsere Beratungsstelle kommen, sind etwa ein Viertel bis ein Drittel in ihrer Kindheit von Frauen missbraucht worden. Wobei etwa die Hälfte davon wiederum nicht nur von einer Frau, sondern zusätzlich von einem Mann Gewalt erfahren haben. Dunkelfeldstudien zu dem Thema geben an, dass etwa fünf bis 15 Prozent der sexuellen Gewalt gegen Jungen und männliche Jugendliche von Frauen ausgeht. Über das Ausmaß sexueller Gewalt von Frauen gegen erwachsene Männer wissen wir kaum etwas.

Wie sieht es in Deutschland mit Hilfsangeboten für sexuell missbrauchte Jungen und Männer aus?

Natürlich kann ich als Junge oder Mann zur ganz normalen Opferhilfe gehen. Anlaufstellen, die sich speziell mit sexueller Gewalt gegen Jungen und Männer beschäftigen, gibt es aber sehr wenige. Eine Erhebung kam mal auf sieben Beratungsstellen deutschlandweit. Viele davon wenden sich an Männer, die in ihrer Kindheit Opfer wurden, wie wir bei Tauwetter auch.

Unser Grundsatz ist allerdings: Jeder, der zu uns kommt, wird beraten. Aber es ist schon eine andere Beratungssituation, wenn jemand ein Kindheitstrauma aufarbeiten muss als wenn ein Erwachsener zu mir kommt und sagt: Mir hat gestern jemand im Club K.O.-Tropfen in den Drink getan. In der Schwulenszene gibt es außerdem einige Anlaufstellen für homophobe Übergriffe und auch gegen Gewalt in schwulen Paarbeziehungen. Aber insgesamt ist das Netz für Männer leider sehr dünn.

Hat sich die Debatte in Ihrer Wahrnehmung in den vergangenen Jahren verändert?

Ja, wenn es im um sexuelle Gewalt gegen Jungen geht. Nein, wenn es zum Beispiel sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz gegen erwachsene Männer betrifft. Wir von Tauwetter haben uns 1991 als Selbsthilfegruppe zusammengefunden. Das ist dann immer weiter gewachsen, 1995 wurden wir zur Anlaufstelle, 1999 zum Verein. Inzwischen bieten wir auch Fortbildungen an, sitzen an Runden Tischen. Interessant ist: Wir waren in der Ursprungsgruppe ein Sozialarbeiter, ein Psychologe, ein Mediziner und ein Buchhalter. Wir hatten also zufälligerweise alles an Expertise, was man für eine solche Anlaufstelle braucht. Sollte man denken. Allerdings hatte keiner von uns in seiner Berufsausbildung oder bisherigen Laufbahn irgendwas über sexuelle Gewalt gegen Jungen gelernt. Das Thema war einfach nicht vorhanden.

Das ist heute schon anders. Der größte Einschnitt war 2010, als der Missbrauch am Canisius-Kolleg und an der Odenwald-Schule öffentlich wurde. Da hieß es plötzlich: Ach, Männer auch! Dabei hat sicherlich eine Rolle gespielt, dass es sich um Eliteeinrichtungen gehandelt hat, dass die betroffenen Männer aus bestimmten gesellschaftlichen Schichten kamen und daher ein anderes Standing hatten, als wenn das Ganze an einer Brennpunktschule passiert wäre. Das hatte aber nicht nur positive Folgen.

Inwiefern?

Teilweise wurden Geschlechterunterschiede verwischt. Früher hieß es: Opfer von sexuellem Missbrauch werden Mädchen. Jetzt heißt es häufig: Kinder. Dabei sind es Mädchen und Jungen. Und natürlich Kinder, die nicht in diese beiden Geschlechter passen. Ich bin der letzte, der ständig die Unterschiede der Geschlechter betonen will, es gibt ja in der Tat viele Gemeinsamkeiten unter Opfern sexuellen Missbrauchs. Aber es gibt eben auch Unterschiede und die muss man immer mitdenken.

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