Sexueller Missbrauch:"Viele Männer verdrängen jahrelang, dass sie missbraucht wurden"

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Sonne in Köln

Männern fällt es oft besonders schwer, sich einzugestehen, dass sie missbraucht wurden.

(Foto: picture alliance / dpa)

Männern passiert so etwas nicht: Thomas Schlingmann vom Verein "Tauwetter" erklärt, warum es männlichen Opfern oft schwer fällt, sich mit sexuellen Gewalterfahrungen auseinanderzusetzen - und warum es bisher kaum Hilfsangebote für sie gibt.

Interview von Hannah Beitzer, Berlin

Die Vorwürfe gegen den Schauspieler Kevin Spacey sind schwer: Er soll Jungen und Männer sexuell belästigt und missbraucht haben. Warum es für Männer noch immer außerordentlich schwer ist, sich einzugestehen, dass sie Opfer sexueller Gewalt geworden sind, erklärt Thomas Schlingmann von der Beratungsstelle "Tauwetter".

SZ: Herr Schlingmann, wird sexuelle Gewalt gegen Jungen oder Männer in der Öffentlichkeit anders diskutiert als gegen Frauen?

Thomas Schlingmann: Meines Erachtens: Ja. Es herrscht das Bild, dass Männern sexuelle Gewalt nicht passiert. Immer noch. Männer müssen auch in unserer Gesellschaft noch stark sein und durchsetzungsfähig. Dazu passt es nicht, Opfer sexueller Gewalt zu werden. Die Opfer haben deswegen eine hohe Hemmschwelle, es sich überhaupt einzugestehen. Weil sie sich fragen: Bin ich überhaupt noch ein Mann? In der Aufarbeitung gibt es deswegen gewisse Unterschiede zu Frauen.

Inwiefern?

Wir bei Tauwetter wenden uns besonders an Männer und Jungen, die in ihrer Kindheit oder Jugend Opfer sexueller Gewalt wurden. Da läuft sehr viel an Umdeutung und Kompensation. Das ist bei Frauen zwar auch so, wie es geschieht, unterscheidet sich allerdings. Auch wenn man natürlich nie verallgemeinernd von "den Männern" und "den Frauen" sprechen kann.

Bei Männern beobachten wir zum Beispiel oft, dass sie gegengeschlechtlicher Missbrauch als Kind oder Jugendlicher umdeuten zum "ersten heterosexuellen Abenteuer", also zu einvernehmlichen Sex. Das passt besser zur Männerrolle in der Gesellschaft. Gleichgeschlechtlicher Missbrauch führt häufig zu der Frage: Bin ich etwa schwul? Diese Frage mag auf den ersten Blick seltsam wirken, ist es aber gar nicht. Zum Beispiel wissen viele Menschen nicht, dass Jungen wie Männer auch in Situationen von sexueller Gewalt Erektionen oder Ejakulationen haben können. Sie interpretieren das dann oft selbst als Zeichen, dass es ihnen doch irgendwie gefällt - verstärkt vom Täter oder der Täterin, die sagen: Siehst Du! Dabei stimmt das nicht.

Wie ist das denn bei Jungen, die schwul sind?

Jungen, die nicht dem klassischen Männerbild entsprechen, sind in besonderer Weise gefährdet, Opfer sexueller Gewalt zu werden. Das betrifft auch schwule Jugendliche oder solche, die es vielleicht werden. Während ihrer Orientierungsphase oder eines möglichen Coming-Outs werden manche Opfer von Männern, die genau die Suche ausnutzen. Andere werden Opfer von sexueller homophober Gewalt.

Das Ergebnis ist in beiden Fällen eine massive Verunsicherung. Einige erleben den Missbrauch als unangenehm und hinterfragen dann ihre sexuelle Orientierung, andere werden gleichsam auf Ältere geprägt und haben oft Probleme mit Gleichaltrigen. Dritte schrecken zurück und lassen sich nie wieder auf homosexuelle Beziehungen ein. Die einvernehmliche Einführung Minderjähriger in die Sexualität durch eine ältere Person - egal ob Mann oder Frau - ist aber ein Legitimationsmythos.

Wie verarbeiten Männer solche Übergriffe?

Sexuelle Gewalt ist immer ein sehr starker Angriff auf die eigene Identität. Viele Männer verdrängen jahrelang, dass sie missbraucht wurden. Das kann so aussehen, dass ein Jugendlicher ganz erleichtert ist, wenn er in der Bravo liest: Dass Jungs zusammen masturbieren ist ganz normal, das heißt nicht, dass man schwul ist. Der Junge denkt sich: Gott sei Dank! Erst 20 Jahre später gesteht er sich ein: Hier haben überhaupt nicht zwei Jungs miteinander masturbiert, sondern mein Gegenüber war ein Erwachsener. Das war Missbrauch.

Viele Männer, die sehr tief in klassischen Männlichkeitsvorstellungen stecken, haben auch wenig Zugang zu ihren Gefühlen. Das hat mit der Erziehung zu tun. Für sie ist es schwer, die erlebte Verletzung zu realisieren. Das kann man natürlich nie verallgemeinern, weil es durchaus Männer gibt, die sehr viel mit ihren Gefühlen beschäftigt sind. Aber die gesellschaftlichen Vorstellungen, die Männern vermittelt werden, sehen anders aus.

Macht es einen Unterschied, ob die sexuelle Gewalt von einer Frau oder einem Mann ausging?

Ja. Zum Beispiel ist es für viele Außenstehende durchaus vorstellbar, dass ich als Junge einem Mann unterlegen bin. Aber einer Frau? Das geht ganz schwer mit dem Bild zusammen, in dem Männlichkeit immer noch als Form von Überlegenheit konstruiert wird. Auf der anderen Seite ist Schwulsein in Teilen der Öffentlichkeit immer noch verpönt, was dann bei den Opfern zu den Konflikten führt, die ich schon beschrieben habe.

Die Öffentlichkeit vermischt außerdem sehr gern sexuelle Gewalt und Homosexualität. Gerade, wenn es um Kinder und Jugendliche geht. Viele Männer, die sich selbst als pädophil bezeichnen, haben diese Vermischung in den 80er und 90er Jahren bewusst vorangetrieben, Anschluss zur Schwulenbewegung gesucht, sich als neue diskriminierte Gruppe inszeniert. Gott sei Dank geht inzwischen der größte Teil der schwulen Szene deutlich auf Distanz dazu. Doch das Bild ist immer noch da. Ich bin hingegen vorsichtig, den Begriff "Pädophiler" in diesem Zusammenhang überhaupt zu gebrauchen, denn eigentlich hat sexueller Missbrauch nichts mit sexuellen Präferenzen zu tun.

Womit dann?

Es geht um Macht. Das lässt sich auch aus den Berichten herauslesen, die über Kevin Spacey kursieren. Sollten sie denn wahr sein, dann hat er Übergriffe auf einen 14-Jährigen verübt, aber auch auf erwachsene Männer. Hollywood ist überhaupt ein Musterbeispiel dafür, wie Hierarchie und Macht sexuell verkleidet werden.

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