Betty ist 73 und Jungfrau. Noch nie hat ein Mann ihren nackten Körper gestreichelt. Betty ist fast blind und geistig behindert. Noch nie hat sie gespürt, wie das kribbelt im Bauch. "Ick hab Mut", sagt Betty und nickt, "ick hab Mut."
Es ist Freitagabend im Gästehaus im niedersächischen Ort Trebel. An einem langen Tisch sitzen Behinderte und ihre Betreuer. Kerzen brennen, Kastanien liegen neben bunten Blättern auf der Tischplatte. Einige löffeln Kürbissuppe, andere stehen Schlange am Büfett. "Vorher müssen wir beten", sagt ein Behinderter mit Bart und faltet die Hände. "Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen."
"Ich bin Lothar Sandfort und ich bin behindert", sagt ein Mann, der in einem Rollstuhl sitzt. "Das sehen wir doch, wenn du da in deinem Rollstuhl hockst", sagt der Bärtige. Sandfort ist Psychologe und leitet das Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter (ISBB). Heute beginnt ein Erotik-Workshop. Behinderte, die sich nach Sex sehnen, treffen auf Sexualbegleiter in Ausbildung, die ihnen Sex gegen Bezahlung anbieten. "Wenn ihr ein Date haben wollt, müsst ihr zu dem Sexualbegleiter gehen und ihm oder ihr sagen, was ihr haben wollt", sagt Sandfort, "ihr könnt Sex haben, müsst ihr aber nicht." Betty reißt den Kopf nach oben und lacht auf. "Ick freu mir schon", sagt sie und ihre feuerrot gefärbten Locken wackeln hin und her.
Betty kommt aus Berlin-Kreuzberg. "Da schmeißen sie am 1. Mai Flaschen", sagt sie. Seit Jahrzehnten wohnt sie in einem Behindertenheim in Brandenburg. Früher hat sie in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet, hat Haken an Möbel geschraubt. Seit acht Jahren ist Betty Rentnerin, bekommt 300 Euro im Monat. Sie kann kaum laufen. Langsam setzt sie einen Fuß vor den anderen, krümmt den Rücken, tastet sich an Tischen, Stühlen und Wänden entlang. Betty lebt gerne und redet viel. Ihre kratzige Stimme ist laut. Elf Ringe trägt sie an den Händen, Ohrringe, um den Hals baumelt eine Kette, an der ein großer Bernstein hängt. Wenn sie ihn ganz nah an ihr Auge hält, kann sie manchmal ein Glitzern sehen. Betty lässt sich von ihrem Betreuer ein zweites Glas Rotwein einschenken. "Ich trinke gerne." Betty wünscht sich einen Mann, der sie streichelt und massiert. "Ich will einen, der stark ist, und der sagt dann wahrscheinlich zu mir: ,Zieh dich aus, kleine Maus'", sagt sie.
Es ist Prostitution, aber keine mechanische Verrichtung
Jean heißt eigentlich nicht Jean. Aber wenn der Mann aus Zürich als Sexualbegleiter unterwegs ist, nennt er sich so. Jean ist um die 60 und Mathematiklehrer. Seit einiger Zeit bietet er behinderten Frauen erotische Dienstleistungen an, massiert sie von oben bis unten, streichelt sie, erfüllt sexuelle Fantasien. "Sex ist nicht immer drin, denn dafür muss ich selbst erregt sein", sagt er. Er spricht langsam und mit schweizerischem Akzent, zieht die Wörter lang, seine Stimme ist tief und sanft. Von der Sexualbegleitung hat Jean aus dem Radio erfahren. Jetzt ist er fast fertig mit der Ausbildung.
Früher hätte Jean sich nicht vorstellen können, mit Behinderten Sex zu haben. Aber dann entdeckte er Tantra, lernte neue Seiten der Sexualität kennen. "Ich kann mich sehr gut einfühlen in die Situation der Behinderten, in ihre unerfüllten Sehnsüchte und das gibt mir unheimlich viel." Die Dienstleistung, die er anbietet und für die er 90 Euro in der Stunde bekommt, sei Prostitution, ja, aber keine mechanische Verrichtung von Bewegungen, sondern eine tiefe Begegnung zweier Menschen.
"Es fällt mir leicht, diesen Menschen Zuwendung zu geben", sagt er und streicht sich durch den weißen Schnauzbart. Gerne würde er offen damit umgehen, dass er Sex mit Behinderten hat, aber Jean muss vorsichtig sein. Als Lehrer ist es besonders gefährlich, er fürchtet das Unverständnis. Jean wünscht sich eine Welt ohne dieses Tabu. Seinen vier Kindern hat er davon erzählt, habe kein Doppelleben gewollt. Eine Frau, der er seine Mission gestehen müsste, gibt es nicht. "Guten Freunden habe ich es auch gesagt", sagt er. Die Freundschaft hat ihm danach niemand gekündigt. In zwei Jahren will er raus aus dem Schuldienst, den er oft als Belastung empfindet.
"Von mir aus kannst du alles machen", sagt sie
"Ick hab Lust und ick hab Mut", sagt Betty. Jean setzt sich neben sie. "Weißt du, wie alt ich bin?", fragt sie ihn, "73 - manche sagen, dass ich jünger aussehe." - "Ja, das finde ich auch", sagt Jean. "Hattest du schonmal einen Mann?" - "Nein, nein, nie." - "Ich habe vier Kinder und ich hatte eine Frau, aber jetzt bin ich geschieden." Er nimmt ihre Kette zwischen die Finger. "Ein Bernstein?" - "Ja, den habe ich mir in Zinnowitz gekauft." - "Der ist sehr schön". Betty lacht, nimmt Jeans Hand und hält sie fest. "Wie heißt du?" - "Jean" - "Jens?" - "Nein, Jean, das ist ein französischer Name." - "Oh, französisch." Sie lacht auf. "Ich will den Mann fragen, ob er mich anfassen will." - "Ich bin der Mann." - "Aaaaah", sagt sie und zieht die Augenbrauen hoch. "Wir beide machen das", sagt Jean. "Von mir aus kannst du alles machen", sagt sie, beugt sich zu ihm vor und kichert. "Aber das besprechen wir dann unter drei Augen", sagt Betty. Sie hat nur ein Auge, das andere ist aus Glas. Sie zieht ihre Mundharmonika aus der Tasche und spielt. Weißt du, wieviel Sternlein stehen. "Das ist aber schön", sagt Jean.
Bettys Betreuer Mirko hatte vorgeschlagen, nach Trebel zu fahren. In der Einrichtung, in der er arbeitet, gehen viele Mitarbeiter offen mit dem Thema Sex um. Mirko hat einen Arbeitskreis zum Thema gegründet, lädt Behinderte zu Männerrunden ein, veranstaltet Single-Diskos, bestellt Sexualbegleiterinnen in die Einrichtung. Seitdem reden Betreuer und Behinderte offener über das Thema. "Zum Glück ist die Leitung aufgeschlossen", sagt er. Aus Trebel würden die Behinderten verändert zurückkehren: "Viele achten mehr auf ihr Äußeres, sind selbstbewusster, ruhiger, weniger aggressiv, tiefenentspannt."