Süddeutsche Zeitung

Serie "Wie ich euch sehe": Hochbegabter:"Ich musste lernen, meine Intelligenz zu verheimlichen"

Lesezeit: 4 min

Er weiß alles über Maschinenbau und Rosenzucht. Doch das soll niemand merken. Ein Hochbegabter erzählt aus seinem Alltag.

Protokoll: Katja Schnitzler

In unserer Serie "Wie ich euch sehe" kommen Menschen zu Wort, mit denen wir täglich zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen: eine Polizistin, ein Zahnarzt, ein Stotterer oder eine Kassiererin. Sie teilen uns mit, wie es ihnen im Alltag ergeht, wenn sie es mit uns zu tun bekommen - als Kunden, Patienten, Mitmenschen. Diesmal erzählt ein Hochbegabter von seinem Alltag. Familienvater Harald T., 49, machte mit 40 Jahren einen Intelligenztest. Seitdem weiß der Angestellte, weshalb er schon immer anders war.

Ich bin schlauer als die meisten, nur darf das keiner erfahren. Ich musste lernen, meine Intelligenz zu verheimlichen. Ansonsten werde ich von Euch für einen Angeber gehalten, einen Hochstapler. Oder für einen Freak. Denn wenn jemandem klar wird, dass ich mir - sagen wir über Maschinenbau oder Rosenzucht - innerhalb kürzester Zeit genauso viel Wissen aneignen kann wie jemand, der das jahrelang studiert hat, werde ich ihm unheimlich.

Daher nehmt es mir bitte nicht übel, wenn ich eine Notlüge erfinde, um mich unbehelligt mit jemanden über seinen Beruf oder seine Hobbys unterhalten zu können. Dem leidenschaftlichen Wellensittichzüchter sage ich, dass ich früher auch einen Sittich hatte - um zu erklären, weshalb ich alles über Haltung, Fütterung oder Krankheiten der Vögel weiß. Wenn jemand gerade sein Haus renoviert, kann ich mit ihm fachsimpeln, wie am besten Wandputz aufgebracht wird. Dabei habe ich womöglich nur einmal einen Fachartikel zum Thema gelesen. Mein Gehirn speichert alle Details ab. Ich bin wie ein Schwamm, der Wissen aufsaugen muss. Das ist ein Glück, aber auch eine Belastung.

Von meinem Vater wollte ich als kleines Kind alles ganz genau wissen: Wie weit der Mond weg ist, wie viele Menschen es gibt und wie hoch dieser oder jener Berg ist. Er hat sich, erschöpft von Hunderten Fragen, irgendwann eine Antwort ausgedacht - und es hat mich sehr enttäuscht, als mir das klar wurde. Denn ich will wissen, ich muss wissen, und wenn ich eine Wissenslücke habe, muss ich sie füllen, sonst finde ich keine Ruhe.

Nur bei höchster Konzentration, extremem Zeitdruck oder beim Ausüben von Risikosportarten, wenn jede Ablenkung fatale Folgen hätte, macht der Wasserfall an Gedanken in meinem Kopf kurz Pause oder wird zumindest leiser. Also stürze ich mich beim Freeriden oder Mountainbiken steilste Hänge hinunter oder rase mit 230 km/h über die Autobahn. Dann ist endlich mal Ruhe. Ich habe das Gefühl, mein Leben mit angezogener Handbremse zu führen. Als ob ich in einem Formel-1-Wagen zum Brötchenholen fahre, und der Motor im Stadtverkehr überhitzt. Meine Multibegabung zu verstecken, strengt an. Doch es ist wichtig - sonst gehen die Leute auf Abstand.

Lange wusste ich nichts von meiner Hochbegabung. Ein Kollege, der Mitglied bei Mensa ist ( Hochbegabten-Verein, Anm.d.Red.), hatte sie erkannt und mich gedrängt, einen IQ-Test zu machen. Das Ergebnis: Ich bin sogar noch intelligenter als die meisten Hochbegabten. Wenn Sie das lesen, denken Sie bestimmt, so ein Angeber! Daher wissen nur meine Frau, meine Eltern und sehr wenige andere Menschen - Mensaner - davon.

Ich will auch nicht vorgeführt werden, wie damals auf der Abschlussfeier der Grundschule: Sie haben mich auf die Bühne gestellt und ich sollte Fragen beantworten, etwa nach der schnellsten Eisenbahn der Welt. Und ich? Ließ mich zum Affen machen.

In der Jugend hatte ich eigentlich nur ein, zwei gute Freunde - das hat sich bis heute nicht geändert. Anderen Mitschülern und Lehrern war ich zu anstrengend mit meinem ständigen Hinterfragen und Besserwissen. Obwohl ich es wirklich besser wusste, oder gerade deswegen. Als es aber darum ging, wer zur Kinder-Rateshow "Eins, zwei, oder ... drei?" mitkommt, wollten mich alle dabei haben.

Manchmal habe ich das Gefühl, einer geheimen Kaste anzugehören. Als ich das erste Mal zu einem Mensa-Treffen gegangen und auf andere Hochbegabte getroffen bin, war es eine Erleichterung, sich mal nicht verstecken zu müssen. Mensa ist, wenn man einen Witz über drei Ecken erzählt, und trotzdem alle lachen.

Mit Euch versuche ich, geduldiger zu sein: Ihr könnt Sachverhalte einfach nicht so schnell erfassen wie ich. Das ist fast wie buddhistisches Zen, wenn ich beobachte und erkläre und wieder beobachte, wie die Erkenntnis reift. Es macht mir großen Spaß, mein Wissen weiterzugeben und anderen damit das Leben hin und wieder zu erleichtern. Das macht mich sehr glücklich - ich rede wirklich gern mit Menschen.

Von hundert Menschen sind zwei hochbegabt, und nicht alle wissen es, leider: Sonst wäre ihnen klar, dass sie nicht zu blöd sind, um bei anderen gut anzukommen. Sondern dass sie einfach schneller denken und damit aus dem Raster fallen.

Wer früh von seiner Intelligenz weiß und entsprechend gefördert wird, kann vielleicht mehr daraus machen, so dass dieses Potenzial nicht verschwendet würde - ich habe es erst spät erfahren. Ich bin weder Astronaut noch werde ich den Nobelpreis bekommen. Ich muss mich fragen, was ich aus dieser speziellen Begabung gemacht habe. Zugegebenermaßen war ich zu faul, um mich bei Schule und Studium richtig reinzuhängen. Also fliege ich nicht zum Mond.

Es mag Sie überraschen, aber auch ich kann daran scheitern, eine neue Kaffeemaschine richtig zu bedienen - wenn ich die Anleitung nicht gelesen habe. Weil aber niemand von Euch meinen IQ kennt, ist auch keiner schadenfroh.

Trotz meiner Hochbegabung fühle ich mich oft dumm: Wenn ich wieder jemanden an die Wand geredet habe, weil mein Kopf einfach so voll ist und alles raus muss. Und ich die Signale übersehen oder ignoriert habe, dass der andere das Interesse längst verloren hat. Da könnte ich mir hinterher vor die Stirn schlagen.

Wenn Sie also auf jemanden treffen, der sehr viel redet und überraschend viel weiß, wundern Sie sich bitte nicht. Sondern nutzen Sie die Möglichkeit für ein anregendes Gespräch mit detailliertem Hintergrundwissen. Ich würde mich freuen.

Informationen für Hochbegabte und IQ-Tests finden Sie unter https://www.mensa.de/

Wie nehmen Sie die Menschen wahr, mit denen Sie sich aufgrund Ihrer Lebenssituation oder Ihres Berufes tagtäglich auseinandersetzen? Was wollten Sie schon immer einmal loswerden? Senden Sie ein paar Sätze mit einer kurzen Beschreibung Ihrer Situation per E-Mail an:leben@sueddeutsche.de. Wir melden uns bei Ihnen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2910017
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.