Süddeutsche Zeitung

Serie ÜberLeben:Vier Jahre Diagnostik-Limbo - vom Leben mit einer seltenen Erkrankung

Es begann mit Nasenbluten und Verspannungen im Nacken, später hatte unsere Autorin Schwindel, Gangunsicherheit, taube Gliedmaßen und eine verzerrte Wahrnehmung. Erst in den USA erfuhr sie, was der Grund für die Beschwerden ist.

Von Karina Sturm

Spritzen? In meinen Nacken? Schon bei der Vorstellung wird mir schlecht. Doch in diesem Moment, an einem warmen Sommertag im Jahr 2010, will ich nur, dass der Orthopäde die Schmerzen an meiner Halswirbelsäule wegzaubert. Dass meine Beschwerden noch intensiver werden könnten, daran wage ich nicht zu denken.

In der Grundschule beeindruckte ich meine Klassenkameraden, indem ich meine rechte Hüfte raus- und wieder reinspringen ließ. Meine Lehrer hingegen erschreckte ich regelmäßig mit starkem Nasenbluten, das nur schwer gestillt werden konnte. Ich brauchte viel Schlaf und hatte ständig Schmerzen in den Beinen. Die Ärzte nannten das Wachstumsschmerzen. In der Jugend kamen Verspannungen im Nacken hinzu, für die ich mit 16 Jahren die ersten Medikamente verschrieben bekam - Antidepressiva, um mich zu entspannen.

Die Serie "ÜberLeben"

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen und wie Menschen aus Krisen wieder herausfinden. Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de.

Weil die Schmerzen über die Jahre weiter zunehmen, sitze ich schließlich bei einem Orthopäden nach dem anderen. Acht kleine Spritzen mit Betäubungsmittel setzt er in meinen Nacken. Sekunden später atme ich flach und kämpfe um mein Bewusstsein. Ich kann mich kaum auf den Beinen halten. Meine Umgebung verschwimmt. Es ist, als würde ich neben mir stehen und mich selbst beobachten. Angst steigt in mir auf. Sterbe ich jetzt?

Die Praxismitarbeiter schicken mich nach Hause. Gerade so schaffe ich die drei Kilometer zu meiner Wohnung in Erlangen und lege mich hin. "Sicher nur kurzfristige Nebenwirkungen", rede ich mir ein. Als ich am nächsten Morgen die Augen öffne, fühle ich mich tatsächlich etwas besser. Das hält nicht lange. Während ich einen Nudelauflauf esse, wird meine linke Körperhälfte taub. Ich spüre meine Zunge nicht mehr und lalle wie ein Betrunkener. "Ein Schlaganfall!", schießt es mir in den Kopf. Ich will aufstehen. Meine Beine knicken weg und ich falle zurück auf das Sofa. Ich heule unkontrolliert. Was passiert gerade mit mir? Der Bereitschaftsdienst kommt. Er gibt mir Beruhigungsmittel "gegen die Panikattacke". "Ich hatte sicher keine Panikattacke!", sagte ich. Mein Einwand wird ignoriert.

Die Tage und Wochen danach verbringe ich in Wartezimmern. Ich treffe Facharzt über Facharzt, keiner kann mit meinen Symptomen etwas anfangen. Ich berichte von Schwindel, Benommenheit, Gangunsicherheit, Taubheit der Hände und Beine, verzerrter Wahrnehmung und unzähligen anderen neurologischen Problemen. Alle Tests sind unauffällig. Für die Mediziner ist klar: Das muss psychisch sein. Mein Zustand verschlechtert sich immer mehr. Mittlerweile kann ich nicht mehr arbeiten und kaum noch aufstehen. Ich ziehe mich zurück. Bei jeder Bewegung höre ich ein lautes Krachen im Nacken. Nachts schrecke ich auf, weil ich spüre, dass meine Atmung ausgesetzt hat. Ich schlafe wenig. Ich habe das Gefühl, dass niemand mich ernst nimmt. Ich erkenne, dass ich selbst nach Antworten suchen muss.

Nach Monaten eigener Recherche stoße ich 2011 auf die Diagnose "Instabilität der Halswirbelsäule", die viele meiner wirren Symptome erklärt. Ich lasse bei mir ein "Upright-MRT" vornehmen, also eine Kernspintomografie in aufrechter Haltung. Damit lassen sich Schäden am Bewegungsapparat erkennen. Eine halbe Stunde nach der Untersuchung ist alles klar. Meine Halswirbelsäule sieht aus wie die einer alten Frau. Ich habe mehrere instabile Wirbel. Erst bin ich geschockt, aber dann erleichtert, endlich zu wissen, mit was ich es zu tun habe.

Keiner der 50 Ärzte will eine Operation riskieren

Ich fange an, alle erdenklichen Therapien auszuprobieren. Die nächsten drei Jahre laufen nach einem festen Schema ab. Arztbesuche, zwei bis dreimal pro Woche Physiotherapie, Ruhephasen. Mein einziges Ziel: geheilt zu werden. Ein Sozialleben kenne ich nicht mehr. Doch anstatt einer Besserung tritt das Gegenteil ein. Zusätzlich zu meiner Halswirbelsäule werden plötzlich andere Gelenke wackelig. Keiner meiner Therapeuten kann meinen Zustand erklären. "Frau Sturm, Sie sind konservativ austherapiert", sagt einer der Ärzte.

Was nun? Eine Operation, die meine Wirbel miteinander verschraubt, ist die letzte Option. Angst spüre ich nicht, eher Freude über eine womöglich permanente Lösung. Doch zur OP kommt es nie. Keiner der mehr als 50 Ärzte, die ich aufsuche, will das Risiko eingehen. Die Chirurgen raten zur Physiotherapie, die Physiotherapie schickt mich zum Chirurgen.

Doch die Krankheit selbst ist nicht mein einziges Problem. Wird man plötzlich krank und arbeitslos, bekommt man es mit der Rentenversicherung, der Krankenkasse und der Agentur für Arbeit zu tun. Und keiner will zuständig sein. Das dauernde Streiten um Hilfsmittel, Untersuchungen, finanzielle Unterstützung setzt mir stark zu. Ich verliere die Unterstützung einiger Freunde und bin zunehmend auf Hilfe von Fremden angewiesen. Als ich an meinem Tiefpunkt angekommen bin, entscheide ich mich, noch ein letztes Mal auf die Suche zu gehen.

Austherapiert und ohne Option auf eine Operation in Deutschland packe ich meine Koffer, leere mein Sparkonto und fliege nach Chicago. Ich lasse mir mehr als 500 Spritzen in die Bänder meines Nackens geben, in der Hoffnung, diese dadurch zu straffen. Ohne Erfolg. Doch was nun folgt, ist neu. Mein Therapeut gibt mich nicht auf. Er schickt mich zu einem Neurochirurgen im Bundesstaat Maryland. Ich bin genervt. "Was soll der denn sehen, was alle anderen zuvor nicht erkannten?", werfe ich in den Raum, lasse mich aber dennoch überzeugen.

Im Mai 2014 hat meine Suche endlich ein Ende. Durch Zufall finde ich mich in Maryland im Wartezimmer eines weltweit anerkannten Spezialisten für die Erkrankung wieder, die mich seit meiner Kindheit begleitet. Nach vier Stunden Untersuchung lächelt mich der grauhaarige Herr im schicken Anzug an und sagt: "Ganz eindeutig, du hast das Ehlers-Danlos-Syndrom".

Das Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS) ist eine angeborene Erkrankung des Bindegewebes. Sie führt zu überbeweglichen, instabilen Gelenken und kann den ganzen Körper betreffen; in meinem Fall vor allem die Wirbelsäule. Auf einmal ergibt alles Sinn. Ich bin geschockt, erleichtert und am Boden zerstört zugleich. Endlich ist klar, dass ich mir die Symptome nicht einbilde. Trotzdem kann ich nicht mehr zurück in mein altes Leben. Eine Heilung gibt es nicht, wohl aber eine Therapie, die die Symptome lindert.

Heute, fast genau vier Jahre nachdem ich die Diagnose bekam, begleiten mich über zehn chronische Krankheiten durch den Tag. Ich habe gelernt, mit diesen Einschränkungen umzugehen und meine fitten Momente zu nutzen, um eine neue Aufgabe zu finden. Mittlerweile studiere ich Journalismus im Fernstudium, ganz von meinem Sofa aus. Ich veröffentliche Bücher und versuche, in meinem Blog mehr Aufmerksamkeit auf meine Erkrankungen zu lenken. Ich hoffe dadurch, anderen Betroffenen Kraft zu geben. Kraft, um durchzuhalten und nicht aufzugeben. Außerdem will ich diese unsichtbaren Krankheiten durch meine Texte etwas sichtbarer werden lassen, so dass Menschen mit EDS von ihrem Umfeld besser verstanden werden.

Natürlich vermisse ich ab und an mein altes Leben und habe das Gefühl, ich muss doch funktionieren können wie andere 31-Jährige. Dann mache ich Dinge, die mir vielleicht nicht gut tun - wie eine kurze Wanderung oder ein Stück Fahrradfahren - und verdränge die negativen Konsequenzen. Das sind häufig die Tage, die besonders schön sind. Dicht gefolgt vom nächsten Tag, der umso schlechter ist und bereuen lässt. Doch auch das gehört zum Auf und Ab im Leben mit einer seltenen chronischen Krankheit: zu fallen, aber immer wieder aufzustehen.

Die vier Jahre im Diagnostik-Limbo waren für mich, als würde ich in der Warteschleife einer Telefonservice-Zentrale festhängen. Ständig wurde ich weiter verbunden. Immer in der Hoffnung endlich jemanden zu sprechen, der mir weiterhelfen kann. Nur, um dann festzustellen, dass die Person nicht die Richtige ist und um wieder zum nächsten durchgestellt zu werden. Diese Zeit fühlt sich heute wie eine Ewigkeit an. Erst mit der Diagnose bekam ich die Möglichkeit, neu anzufangen. Ein einziger Termin in den USA ermöglichte es mir, mit meinem alten, gesunden Leben abzuschließen und ein neues, anderes, aber ebenso glückliches zu beginnen: zusammen mit dem Ehlers-Danlos-Syndrom.

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